INTERVIEW: ANDREJ KLAHN
Im Flur seines Hauses stehen Kisten mit aussortierter Fachliteratur zur zivilen Nutzung der Kernenergie. Eigentlich, so erzählt Joachim Radkau, sei er gerade dabei gewesen, die Bücher wegzuschaffen. Denn das Thema habe ihn schon damals, beim Reaktorunfall in Tschernobyl 1986, kaum noch interessiert. Der Termin für das Gespräch war schon länger verabredet. Während Radkau aber über sein kürzlich erschienenes Buch »Die Ära der Ökologie« spricht, das sich im Untertitel als »Weltgeschichte« offeriert, bemüht man sich in Japan verzweifelt, den Super-Gau im Kernkraftwerk Fukushima zu verhindern.
Der 1943 geborene, an der Universität Bielefeld lehrende Historiker hat sich insbesondere auf dem Feld der Umweltgeschichte über Deutschland hinaus einen Namen gemacht. Mit einer Studie über »Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft« habilitierte er sich 1980, widmete sich dem »Zeitalter der Nervosität«, schrieb mit »Natur und Macht« eine »Weltgeschichte der Umwelt« und legte 2005 eine zugleich gefeierte und kontrovers diskutierte Biografie Max Webers vor.
In diesen Tagen wird in Japan die Übersetzung von Radkaus »Natur und Macht« ausgeliefert. Die Einladung zur Präsentation habe er dankend abgelehnt. Das sei ja kein hinreichender Grund für eine Flugreise. Es kann eben doch sehr hilfreich sein, sich ökologisch korrekt zu verhalten. Das würde einem manchmal viel ersparen.
K.WEST: In Japan hat sich einer der schlimms- ten AKW-Unfälle ereignet. In einem dicht besiedelten Land, das zudem auch noch Erdbebengebiet ist. Warum gab es dort in der Bevölkerung angesichts dieser Risiken so wenig Widerstand gegen die Kernenergie?
RADKAU: Schon Petra Kelly war während einer Japanreise 1976 geradezu erschüttert, dass sich in Japan nichts regte; in einem Land, auf das Atombomben geworfen worden waren. Doch lokale Protestbewegungen hat es in Japan durchaus gegeben.
K.WEST: Aber im Vergleich zur deutschen Szene waren die eher mild.
RADKAU: Die erste erfolgreiche Initiative gegen Kernkraftwerke in den USA, die sich gegen das AKW im kalifornischen Bodega Bay richtete, stellte das Erdbebenrisiko Anfang der 1960er Jahre in den Mittelpunkt und war damit erfolgreich. Das Erdbebenrisiko in Japan war von Anfang an bekannt. Genauso wie die Tatsache, dass es sich nicht beherrschen lässt. Dass es in Japan trotz allem zu keiner übergreifenden Vernetzung der Anti-Atom-Bewegung gekommen ist, liegt wohl auch an dem Umstand, dass die Energie-Alternativen sehr begrenzt sind. Die deutsche Anti-AKW-Bewegung der 1970er Jahre konnte noch in dem Bewusstsein operieren, dass genügend Kohle vorhanden ist. Hinzu kommt wohl auch eine spezifisch japanische Technikgläubigkeit, die Überzeugung, ein Meister der Technik zu sein.
K.WEST: Teile der Umweltbewegung haben sich in den letzten Jahren angesichts des Klimawandels mit der Atomkraft arrangiert. Was wird nun passieren?
RADKAU: Zwischen dem Klima-Alarm und der Ablehnung der Kernenergie besteht eine latente Spannung. Margaret Thatcher war in den 1980ern eine laute Stimme im Chor der Klima-Alarmisten, weil sie in der Kohleindustrie die Hochburg der Labour-Party sah. Solche Zusammenhänge finden sich viele. Die Katastrophe in Japan könnte die Positionen in Bewegung bringen. Genauso wie die Kontroverse um den Bio-Sprit, der die Ernährungsgrundlage der Menschheit gefährdet, erinnert sie uns daran, dass es gefährlich ist, aus der Klimaerwärmung ein Totschlagargument zu machen.
K.WEST: Bestimmen Katastrophen die Agenda der Umweltbewegung?
RADKAU: Ich bestreite das. Die Umweltbewegung, die sich 1970 schlagartig von den USA aus verbreitet, hat ihren Ursprung nicht in Katastrophen. Insgesamt gehört sie in die Reihe der großen Aufklärungen, entspringt dem Kopf, nicht dem Bauch.
K.WEST: Das Jahr 1970 markiert für Sie das Geburtsjahr der Umweltbewegung. Lassen sich im Rückblick Gründe für diese »ökologische Revolution« erkennen?
RADKAU: Das ist eines der größten Rätsel, dessen Lösung mich immer noch beschäftigt. Ich habe lange nach einer Initial-Katastrophe gesucht. Dafür käme beispielsweise der Ökozid der Amerikaner in Vietnam in Betracht. Dieses Thema spielt beim »Earth Day« am 22. April 1970, dem Urknall der amerikanischen Umweltbewegung, auch eine Rolle. Aber es hat nicht den Stellenwert, den es hätte haben müssen angesichts der ökologischen Katastrophe, die dieser Biokrieg ausgelöst hat. Wichtig für das Entstehen der Ökobewegung in Deutschland war beispielsweise der Kampf um den Erhalt alter Stadtviertel. Joschka Fischer ist aus dieser Szene hervorgegangen. Doch monokausal lässt sich die Bewegung nicht erklären.
K.WEST: Welche Rolle spielten die Achtundsechziger bei der Entstehung der Umweltbewegung?
RADKAU: Zunächst würde man denken, es gebe eine direkte Verbindung, weil viele von ihnen irgendwann in die Öko-Bewegung gegangen sind. Doch dieser Übergang war für viele nicht leicht. Ich habe den Eindruck, dass er sich oftmals über persönliche Lebenskrisen vollzogen hat. Über Krisen des 68er-Lebensstils: Nächte durchrauchen, diskutieren, Beziehungskonflikte vom Zaun brechen. Das hält man irgendwann nicht mehr aus. Ich spreche aus eigener Erfahrung.
K.WEST: Es gab keine inhaltlichen Berührungspunkte zwischen den beiden Bewegungen?
RADKAU: Eine direkte ideelle Beziehung ist erstmal nicht festzustellen. Bis Ende der 60er Jahre waren die meisten Intellektuellen, die sich progressiv fühlten, überzeugte Anhänger der Kernkraft. In den USA gibt es einen viel direkteren Übergang von den 68er-Protesten gegen Atomwaffentests zum Widerstand gegen die zivile Atomkraft. In der Bundesrepublik veröffentlichten führende deutsche Atomphysiker, darunter von Weizsäcker, Otto Hahn und Heisenberg, im April 1957 das Göttinger Manifest, in dem sie sich scharf gegen die atomare Bewaffnung Deutschlands wenden, zugleich aber für das friedliche Atom plädieren. Das hat die Fronten durcheinander gebracht. Das Thema Atomwaffen ist die 70er Jahre hindurch bei den Anti-AWK-Aktivisten eher randständig geblieben. Erst um 1980 herum haben sich beide Bewegungen im Kampf gegen die Nachrüstung und die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf vereint.
K.WEST: Spontan würde man beim Thema Umweltschutz vermutlich denken, dass es von einer Graswurzelbewegung groß gemacht worwurde. In Deutschland, so lese ich in Ihrem Buch, sei der Umweltschutz am 7.11.69 im Innenministerium Genschers erfunden worden.
RADKAU: Die einzelnen Aktionslinien der Umweltpolitik waren längst da. Aber es ist schon erstaunlich, in welchem Maße der integrative Begriff »Umwelt« von der sozial-liberalen Regierung in Umlauf gebracht worden ist. Lange bevor die Presse darauf ansprang. Der Spiegel bringt seinen ersten Titel zum Thema erst im Herbst 1970 und stellt es so dar, als hätten die Deutschen den Umweltschutz ver pennt. Tatsächlich hatten die Spiegel-Redakteure diese Entwicklung verschlafen. Denn zu diesem Zeitpunkt gab es in Deutschland schon massenhaft Aktivitäten in diese Richtung. Doch herkömmliche Naturschützer waren eher konservativ, ein Milieu, mit dem die intellektuelle Elite nichts anfangen konnte.
K.WEST: Wodurch wurde »Umwelt« politikfähig?
RADKAU: Indem das altmodische, muffige und spätromantische Thema plötzlich frisch und neu als USA-Import herüberkam, international und modern.
K.WEST: Unter Richard Nixon wird 1970 die amerikanische Umweltbehörde eingerichtet. Nicht, weil Nixon etwa überzeugt gewesen wäre, dass man den Umweltschutz stärken müsse, sondern weil er vom Scheitern der Amerikaner in Vietnam ablenken wollte. Ohne derartige Steigbügelhalter wäre die Bewegung vermutlich nicht das, was sie heute ist?
RADKAU: Die Umweltbewegung ist eigentlich niemals nur Umweltbewegung gewesen. Es haben auch immer andere Ziele mitgespielt. Umweltbewusstsein entspringt auch keiner selbstlosen Motivation. Diejenigen, denen es um das eigene Wohlbefinden, um die eigene Gesundheit geht, die werden gern als NIMBY-Initiativen abgetan (»Not In My Back Yard«, deutsch: »Nicht in meinem Garten«). Ich halte das für falsch. Man kann deutlich zeigen, dass die Anti-Atomkraftbewegung in genau dem Moment beginnt, als Atomkraftwerke nicht mehr nur Zukunftsvision waren, sondern Realität aus Beton wurden. Also: lokale Initiativen. Die Sorge um die eigene Gesundheit ist eine der stärksten Triebkräfte überhaupt. Die wirkliche Globalität der Umweltbewegung besteht auch ganz wesentlich in diesen lokalen Initiativen, die aus vitalen Lebensinteressen heraus handeln.
K.WEST: Welche Rolle haben die Massenmedien gespielt?
RADKAU: Viele Umweltschäden sind unmittelbar gar nicht sinnlich erfahrbar. Auch die Risiken der Kernenergie nicht, es sei denn, es explodiert ein Kernkraftwerk. Doch auch dafür braucht es eine mediale Vermittlung. Ihre Rolle ist also sehr wichtig, doch sollte man sie nicht überschätzen. Die Anti-Kernkraftbewegung wuchs zunächst ohne massenmediale Unterstützung heran. Die Berichterstattung über die friedliche Kernenergie war zu dieser Zeit überwältigend positiv.
K.WEST: Aber auch heute noch gilt: Ein Umweltproblem, das ich nicht im Fernsehen sehe, ist kein Problem.
RADKAU: Da ist etwas dran. Greenpeace-Aktionen zielten und zielen auf massenmediale Präsenz. Warum sollte man sich sonst mit einem Schlauchboot einem Walfänger entgegenstellen? Das ist nur dann sinnvoll, wenn die Kamera läuft.
K.WEST: Dadurch bekommen aber nur diejenigen Umweltprobleme Dringlichkeit, die sich auch medial in Szene setzen lassen?
RADKAU: Die Tendenz dazu ist zweifellos da. Das ist eines der großen Probleme der Umweltbewegung. Während Greenpeace 1995 eine Kampagne gegen die Versenkung der »Brent Spar« machte – die medienwirksamste Greenpeace-Kampagne überhaupt –, wurde in Nigeria der Umweltaktivist Ken Saro-Wiwa hingerichtet, vorgeblich wegen Anstiftung zum Mord. Tatsächlich hatte er auch gegen die Ölförderung von Shell in seinem Heimatgebiet protestiert. Das ganze Flussdelta wurde damals verseucht, eine Zerstörung, die viel gravierender als diejenige war, die durch die »Brent Spar« drohte. Aber die »Brent Spar«-Aktion ließ sich besser verkaufen.
K.WEST: In den letzten Jahren wurde im Zusammenhang mit Umweltveränderungen von »sliding baselines« gesprochen, womit das Faktum bezeichnet wird, dass sich menschliche Wahrnehmung und Erwartungshaltung parallel zur Umweltzerstörung verschieben. Vor 20 Jahren reichte Sonnenschutzfaktor 8, heute wundern wir uns nicht mehr, wenn es Faktor 20 braucht. Lässt sich mit Blick auf 40 Jahre »Ära der Ökologie« eine Strategie erkennen, wie die Umweltbewegungen mit diesen Anpassungsphänomenen umgehen können?
RADKAU: Ökologisch problematisch sind nicht die großen Katastrophen, sondern schleichende Veränderungen. Davon sollte das Desaster in Japan nicht ablenken. Schleichende Probleme werden von Aktivisten häufig zur akuten Katastrophe gemacht. Das war beim Waldsterben schon so. Damals stand mit den Rauchgasentschwefelungsanlagen allerdings auch eine Technik bereit, die eine Lösung versprach. Das ist heute bei der Klimaerwärmung anders. In Sachen Global warming, wo durch Katastrophenalarm auch Handlungsdruck erzeugt wird, hört man unter vier Augen von Experten, dass Vorhersagen auf Basis von Klimamodellen nicht so zuverlässig sind, wie es in der Öffentlichkeit immer heißt. Ein Problem scheint zu sein: Wenn ich dem Rechnung trage und mit Prognosen vorsichtig bin, erreiche ich politisch nichts.
K.WEST: Sie behaupten, keine Bewegung sei so geschichtsblind wie die Umweltbewegung. Haben Sie dafür eine Erklärung?
RADKAU: Durch unzulängliche Geschichtsbilder sind vitale Wurzeln der Umweltbewegung zeitweise gekappt worden. In der deutschen Öko-Szene gab es eine große Angst, beim Nationalsozialismus zu landen, wenn man sich auf die Suche nach der eigenen Tradition macht. Lange herrschte die Vorstellung vor, die Verbindung zwischen Heimat- und Naturschutz sei ein bräunliches Erbe. Doch diese Verbindung lässt sich weit zurückdatieren, mindestens auf 1848, und zu dieser Zeit entspringt sie einem linken Milieu. Mitte der 1980er Jahre hat es bei den Grünen allen Ernstes Diskussionen darüber gegeben, ob der Begriff »Mutter« faschistisch sei. Erst die Mütter-Bewegung nach Tschernobyl hat diese Diskussion zum Verstummen gebracht. Dabei hätte sich das Thema Mutter angeboten, Umwelt- und Sozialpolitik zu vereinen. Hans Jonas behauptet in »Das Prinzip Verantwortung«, dass gerade in der Mutterliebe die vitale Basis aller Vorsorge für künftige Generationen verkörpert sei. Gerade haben wir am Tag der Frau in der Presse gelesen, dass im wohlhabenden Deutschland 40 Prozent der alleinerziehenden Mütter von Harz IV oder der Sozialhilfe leben.
Joachim Radkau, »Die Ära der Ökologie«. Verlag C. H. Beck, München 2011, 782 S., 29,95 Euro