Kein typisch englisches Wohnzimmer. Ganz und gar nicht. Ein kahler Raum für »Die kahle Sängerin«. Nackte Bettgestelle, eher Pritschen. Sehr im Kontrast zu der eleganten jungen Frau im roten Kleid mit langer Schleppe, die ungerührt einen Becher Joghurt löffelt, platziert vor der ersten Parkettreihe im Schauspielhaus Bochum, und die sich dann auf einer der Metall-Liegen einrollt. Vier Bildschirme stehen hinter den Kopfenden, die ab und zu die Uhr anzeigen – mit vier verschiedenen Zeiten. Die Stunde schlägt für Eugène Ionesco, den Dichter des Absurden und seinen Erstling von 1950. Ein Abgrund von Zeit liegt zwischen dem Drama und unserem Heute. Aber es gibt Brücken, die Kluft zu überwinden. Johan Simons sucht und findet sie.
Eine Zäsur, die Zeitenwende: damals, als der II. Weltkrieg endete und unterm Strich das totale Zero stand. Auf den Monitoren erscheint das freudig feiernde Paris, das den Amerikanern zujubelt, die die Stadt befreien, die Hitler im letzten Moment zerstören wollte. Fünf Jahre später baut Ionesco sein Stück auf dem Boulevard der Brocken Dreams, den Ruinen zerbrochener Sicherheiten, verschütteter traumatischer Erinnerungen und dem Schutt von Schuld und Schmerz.
Im Jahr 2024 sind wir nahe dran, wieder sind Gewissheiten zuschanden geworden, wieder blickt uns das Schrecknis der Vernichtung an, und es fragt sich nur, ob wir den Blick erwidern oder unsere Augen abwenden.
»Die kahle Sängerin« lässt uns eine »Tragödie der Sprache« hören mit Floskeln und Phrasen, Banalitäten und Bagatellen. Persönlichkeit ist eine Schablone, Konversation ein Leerlauf. Mit dem Nichtssagenden, dem Klammern an Konvention und Ritual helfen sich zwei Ehepaare, Smith und Martin, über die Stunden und über die Zeit. In Bochum vollzieht sich die Krise des bürgerlichen Subjekts mit Lust und Laune. Ehepaar Smith: eine Mondäne (Stacyian Jasckson), die auf dem Catwalk stolzieren könnte, und ihr etwas verlotterter Mann (Stefan Hunstein), der auch zu den Party People gehört. Sie arbeiten sich in einem elastischen Körpertheater aneinander ab: sie in Rot, er in blauem Samt.
Ruppig und robust
In weiteren Grundfarben, Gelb und Grün, erscheinen ihre Gäste, Mr. und Mrs. Martin. Wo das Smith-Paar sich breit macht, laut, prall, ruppig und robust agiert, verhalten sich die Martins, die nur noch durch Indizien über ihre Verbindung und Bindung Gewissheit erlangen (»seltsam, sonderbar«), heiter neurotisch und kindlich verdreht. Jele Brückner und Marius Huth nisten sich ein in die irritierte, leicht verschämte Naivität glückseligen Unerwachsen-Seins. Nun fehlte nur noch, dass der Pink Panther im Slapstick über die Szene tigern würde. Stattdessen flimmern in sarkastischer Kommentierung schwarzweiße Werbespots über die Bildschirme, die Persil, Afri Cola und das Lebensmittel Zucker anpreisen.
Eingerichtet in eine (Zwangs-)Anstalt der Normalität (Bühne Sascha Kühne, Johan Simons selbst) beleuchtet der Regisseur grell die Tiefe der Oberfläche, farbenfroh, springlebendig. In gewisser Weise ist Simons’ Ausformung der »Kahlen Sängerin« wie das unterhaltsame Vorspiel zu Yasmina Rezas »Gott des Gemetzels«, zumal auch diese vier Englischen Patienten das Pariserische eingeatmet zu haben scheinen. Wir wissen nicht, ob die beiden Paare – ergänzt durch die stoisch treuherzige Figur des Feuerwehrhauptmanns (Danai Chatzipetrou) und des Dienstmädchens / Dieners, der in der wechselhaften Gestalt von Konstantin Bühler ins Phantasmagorische schillert – eher von Qual oder vom Lachen heimgesucht und überwältigt werden. Jedenfalls liegen sie in Zuckungen auf der Bettstatt, verirren sich im Alphabet und suchen Halt am Satzbau. So buchstabiert sich das muntere Zerstörungswerk fort bis zum zeitlosen Verdämmern.
Das Premierenpublikum reagiert entzückt, begeistert, wie erleichtert: endlich Sinnfreiheit. Ein Ende mit dem Götzendienst gegenüber Diskurshoheiten: dies der niederschmetternde Befreiungsschlag von Eugène Ionesco.
Vorstellungen: 5., 11. und 30. Mai, 12. und 30. Juni, Schauspielhaus Bochum