TEXT: ANDREAS WILINK
Vielleicht hätte Gilles gut in die großbürgerliche Wohnung gepasst, die – ohne Anwesenheit der Eltern – die Geschwister Isabelle und Théo mit dem ebenfalls jungen Amerikaner Matthew teilen. Alle drei sind Cineasten, und sie flirten mit der Revolte, aber eher aus ästhetischen Gründen. Bernardo Bertolucci hat sie in seinem Film von 2003 »Dreamers« genannt.
Es ist derselbe Ort und dieselbe Zeit: Paris um 1970. Gilles beendet gerade das Gymnasium, um danach Malerei zu studieren. Man kennt das alles: Dies ist die Gefahr, dass die Bilder und wovon sie erzählen, sich zeichenhaft banalisieren, plakativ werden, nur noch ihre Codes vertreten und Klischee bleiben. Alles stimmt, und es stimmt wieder nicht. Die perfekte Rekonstruktion ist immer auch ein Potemkinsches Dorf. Die enorme Brutalität, mit der die Polizei die Pariser Mai-Unruhen niederknüppelt, wählt Olivier Assayas als Prolog für seine wenn nicht autobiografische, so doch sehr persönliche Geschichte – einen filmischen Entwicklungsroman. Die Bürgerkinder proben den Aufstand. Da sind die verqualmten Seminarräume, die endlosen Debatten, das Verfassen von Manifesten und Flugblättern, die Parolen an den Wänden, das Zitieren von Mao und Trotzki, die Slogans vom Imperialismus und Anti-Establishment, die nächtlichen Aktionen, bei denen Molotowcocktails fliegen – und ein Wachmann auf der Strecke bleibt. Auch so geht Unschuld verloren. Liebe und Revolution gehören dabei zusammen, zumal die Parteigänger des Aufruhrs meistens die Attraktivität auf ihrer Seite haben.
Zweifel am Dogma sind nicht erwünscht. Gilles meldet sie an, während er mit einigen seiner Pariser Kommilitonen den Sommer über in kommunistischen Zirkeln in Italien abtaucht. Er versteht nicht, weshalb seine Frage nach einer anderen Formsprache für revolutionäre Inhalte als kleinbürgerlicher Individualismus abgetan wird. So driftet er allmählich in seine künstlerische Soloexistenz; die Freunde und Freundinnen gehen jeweils ihre Wege: begeben sich an die internationale Befreiungsfront, drehen Dokumentationen über und für das Volk in der Dritten Welt, munitionieren Arbeiter intellektuell, wärmen sich esoterisch romantisch im Orient auf, wenden sich Heroin und Hippietum zu und bilden künftig die linke Boheme.
Gilles (Clément Métayer) ist kein Autonomer, er lebt autonom. Zwar betätigt er sich anfangs anarchistisch, lieber aber malt er zarte Aquarelle von Frauenkörpern. Am Ende ist Gilles, der die Arbeit seines Vaters als Fernsehregisseur literarischer Adaptionen verachtet, in den Londoner Pinewood-Studios Assistent für eine blödsinnige B-Movie-Produktion, in der Saurier ein Nazi-U-Boot attackieren. Er verlässt das Set, sein Schatten wandert über die Leinwand. Vielleicht wird er konventionell und mittelmäßig, vielleicht ein großer Künstler, vielleicht ein Mitläufer. Alles ist offen. Assayas fragt rückblickend und melancholisch Abstand haltend danach, was mehr Bestand hat: die Fresken von Pompeji und die Gemälde von Franz Hals in Harleem oder die direkte politische Intervention. »Wilde Zeit« selbst ist darauf die Antwort.
»Die wilde Zeit«; Regie: Olivier Assayas; Darsteller: Clément Métayer, Lola Créton, Félix Armand, Carole Combes, Hugo Conzelmann; Frankreich 2012, 122 Min.; Start: 30. Mai 2013.