Wer so beginnt, kann nicht als schlimmer Mensch enden. Vor der Leiche seines König-Vaters sagt der Knabe: »Lieber Papa. Hier in diesem kleinen Brief stecken Küsschen warm und lieb. Halt den Brief ich dir entgegen, regnet’s einen Küsschensegen.« André Kaczmarczyk – kurze Hosen, Kniestrümpfe, Fäustlinge am Bändel, Wollmützchen auf dem Haupt – starrt Löcher in den Himmel und blickt zutraulich und verzagt wie ein Welpe. Rührend, wie er mit den Fingern die Sechs anzeigt: seinen Titel. Auf ihm, den künftigen Heinrich VI., ruht Segen. Himmlischer Segen, nicht irdischer, denn er wird geschmäht, als Spinner verachtet, betrogen, gedemütigt und gemordet von dem, über den Shakespeare eines seiner Meisterwerke verfasst: Richard III., das missgestaltete, »nicht durchgebackene« Monstrum, den Bruder-Mörder, Witwen-Schänder, Reichs-Vernichter. Lieke Hoppe, im ersten Akt eine sternflammende Johanna von Orléans, ist nun ein spastisch verkrümmtes Kampfgirl und geifernder, stammelnder Hell’s Angel. Einen Moment lang sieht es aus, als könne Heinrich die Zähmung der Bestie gelingen, verständnisinnig und zart im Vorschein von etwas, das nicht sein kann. Doch stößt die bête humaine zu. Heinrich, enfant du paradis, stirbt im »Höllenloch«.
Letztes Sterbenswörtchen
Es braucht in dieser von Tom Lanoye aus Shakespeares Heinrich-Dramen kondensierten Fassung – 20 Jahre nach seinem und Luk Percevals »Schlachten«-Gemälde – die Symbole der roten und weißen Rosen nicht, die sich die Dynastien York und Lancaster anheften, um im 15. Jahrhundert die »Wars of the Roses« zu führen. Das Feld ohne Blumenschmuck ist erkennbar ein Todesacker, wie er sich erdig im Düsseldorfer Schauspielhaus ausbreitet. Im geschwärzten Bühnenkasten hängt gewaltig schwer »die verdammte Krone« herab. Dem sich wetterwendisch drehenden, alles zermalmenden Eisenreif gilt das letzte Sterbenswörtchen der Königin Margaretha. Er lastet auf allen, die um ihn ringen. Bis auf einen – oder auf dem doch besonders.
Die Krone schief auf dem Scheitel
Das Stoffpüppchen, das little Henry mit sich trägt und auf sein franziskanisch einfaches Matratzenlager nimmt, wird ihm zur Fantasiefigur, das Weltspiel zur Spielwelt, Englands kontinentaler Außenposten Frankreich zum Traumbezirk des Kindes: Die Legende der Pucelle samt der Episode des Hundertjährigen Krieges, geschieht bei Lanoye im Irrrealis. Das ist ein schöner, vereinfachender Kniff der Textdramaturgie – und mehr als das. Weist er doch Henrys Wesen aus.
Indem Kaczmarczyk die Strümpfe runterrollt, das weiße Hemd aus der Hose zurrt und die Locken in die Stirn streicht – fertig ist der noch verlegene, doch auch schon wirkungsbewusste Jüngling, dem die Krone schief auf dem Scheitel sitzt –, geht das Königskind seinen Passionsweg im Namen dessen, an den er glaubt: als Gerechter unter den Menschen. Ein barfüßiger Friedefürst, betend und versöhnend. Ein Schwächling? So denken nur Kriegsmänner. Das Gesicht der Selbstentmachtung blickt in die Gesichter der Macht: den hochgeschlossen strengen, preußisch korrekten Protektor Gloster (Rainer Philippi); Bischof Winchester gravitätisch im Ornat (Florian Lange mit einer genau gezeichneten Studie beherrschten Kalküls); den grobianischen York (Jan Maak); den Sexualhormone ausdünstenden, klirrend virilen Suffolk (Sebastian Tessenow).
Mathematik der Macht
Blindlings ziehen sie in Schlächtereien, geblendet von der Sonne Yorks oder Lancasters. Ein lesender, träumender, jungfräulicher, wenn auch von Eros (in Gestalt seiner gouvernantenhaften Tante Leonore – Minna Wündrich) nicht gänzlich unverführbarer König geht über ihre Vernunft. Der Mathematik der Macht zieht Henry einen Strich durch die Rechnung, trägt die »Krone der Zufriedenheit« und dreht das reale goldene Ding in Händen wie ein Roulette. Als »Wundarzt« will dieser roi philosophe wirken, nicht Wunden schlagen. Ihn beschäftigt »das Mysterium von Ich und Ich«, womit er den zweifachen Königskörper in »seiner merkwürdigen materiellen und mythischen Gegenwart« (Michael Foucault) meint. Margaretha mault, »Heinrich bliebe stets ein Kind«, manipuliert von Verwandten und Fürsten, um vor der Leiche seine Sonderheit zu erkennen. An sich selbst irre werdend und in die Irre der Bühnenschwärze gehend, ist Kaczmarczyks Heinrich ein Bild des Jammers.
Der »schräge Vogel« Heinrich
David Bösch wählt eine unschuldig verwunderte Betrachtung, als würde er sagen: Henry, c’est moi. In dem Ritterspiel, in das hinein – mittels Pfeifchen im Mund des Ensembles – Schnepfen anschlagen, die der »schräge Vogel« Heinrich lieber durchs Fernglas beobachtet, statt sie abzuknallen, rasseln die Schwerter. Schall und Wahn regieren, es würgt und wehklagt, Schurken sind Schurken, der Gegner wird entleibt, Köpfe rollen. Das Luder Margaretha di Napoli (Sonja Beißwenger) geht als Charakter zunächst auf in ihrem roten Fummel und ganz im Weiß der Braut, bevor sie sich zur Furie aufzäumt, den Weibsteufel aus sich gebiert und als Mater Dolorosa endet.
Im Goldglitterregen
Einmal regnet es Goldglitter, als würde das Sterntalermädchen sich aus Grimms Märchen herübertrauen. Da schimmert dann eine Sehnsucht, die Regisseur und Titelheld verspüren und nach der Kaczmarczyk – ins Leere greifend – heischt. Bösch lässt die Bausteine einen auf dem anderen und hält sich an die Regeln, statt zu schauen, wie sehr sie sich strapazieren lassen und wie weit man gehen kann. Die Stunde nach der Pause erschöpft sich, im Doppelsinn, am Blutrausch. In den Abgrund zwischen Ideal und seiner brutalen Entzauberung hätte Bösch – jenseits physisch rigorosen Torturierens – tiefer blicken müssen.
Das mehrmals eingespielte »God save the King« verhallt im Echo- und Erinnerungsraum eines anderen Shakespeare an diesem Ort. Die Krone, derer Heinrich so müde wird, sie sitzt der Inszenierung wacklig auf. Es muss die dem Fundus entnommene Krone aus dem epochalen »Macbeth« von Jürgen Gosch aus dem Jahr 2005 sein. Dort hatte sie andere Passform. Gerade hier also darf man fragen, ob die Darstellung der Zerstörung rechtmäßiger Ordnung durch menschlichen Frevel nicht einen ästhetischen Radikalismus brauchte, der eine andere, anarchischere Antwort anböte.
28. Dezember 2019, 3., 8. und 24. Januar, 8. Februar 2020, Düsseldorfer Schauspielhaus, www.dhaus.de