TEXT: STEFANIE STADEL
Ein gutmütiger älterer Herr mit weißem Bart, lebhaften Augen, einem Lächeln im Gesicht. So sahen ihn seine Schüler an der Pariser École des Beaux-Arts. Gustave Moreau war 65, als er 1891 dort eine Klasse übernahm. Doch Reife und ruhige Ausstrahlung sollten täuschen, schon sehr bald schauen die Kollegen aufgerüttelt in sein Atelier: Einen »Zufluchtsort der kämpferischen Schöpferkraft« sah ein Zeitgenosse dort entstehen. Eine »Plattform des Widerstands«, die sich inmitten des hoch angesehenen Instituts aufgetan habe. Hier kämen »alle empörten Gegner der Routine« zusammen, »all diejenigen, die sich im Einklang mit ihrer Individualität entwickeln wollten.«
Eine ganze Reihe von Jungkünstlern, die später zur Avantgarde zählen werden, suchte die Nähe des sonderbaren Professors. Darunter so prominente wie Georges Rouault. Oder Henri Matisse, der später einmal gefragt wurde, welcher seiner Lehrer ihm in Erinnerung geblieben sei, und der darauf entschieden antwortete, dass nur einer zähle: Gustave Moreau. Wir wissen, dass dies nicht ganz stimmen kann, aber bezeichnend scheint die Äußerung trotzdem.
Sieben Jahre nach Moreaus Tod werden Matisse und die anderen mit ihrem skandalösen Auftritt im legendären Herbstsalon von 1905 die Kunstwelt erschüttern und, dem Ausruf eines aufgebrachten Kritikers folgend, fortan Fauves genannt. Uta Husmeier-Schirlitz ist überzeugt: Ohne Moreau wäre diese wegweisende Avantgardebewegung so nicht denkbar gewesen.
In ihrer Schau »Sehnsucht nach Farbe« macht sich die Direktorin des Clemens-Sels-Museums in Neuss zu dessen 100. Geburtstag nun daran, die Rolle des schwer durchschaubaren Sonderlings zu belegen. Eine verzwickte Sache. Denn Moreau selbst steht eher abseits der Avantgarde, auf verlorenem Posten, gleichsam der Zeit enthoben. Zwar hat man immer wieder seine Modernität konstatiert. Hat versucht, ihn als Vorläufer des Surrealismus oder Wegbereiter des Tachismus einzuführen. All diese Ehren mögen berechtigt sein. Als modernen Künstler wird man Moreau deshalb aber nicht verbuchen können.
MOREAUS SPRENGKRAFT WAR NUR ZU ERAHNEN
Er selbst verschrieb sich der klassischen Gattung des Historienbildes. Und blieb dabei. Auch wenn er zunehmend vom üblichen Stoff abschweifte, immer tiefer eintauchte in seine private Fantasiewelt, die vieles verschmelzen lässt. Biblisches mit Mythologischem, den japanischen Holzschnitt mit Vorbildern aus Spätgotik, Renaissance, Manierismus. Miniaturen, orientalische Ornamente und archäologische Versatzstücke, die der Künstler sich in Lexika und illustrierten Zeitschriften zusammensuchte. Das alles wurde sorgsam kopiert, kombiniert, fast anachronistisch nach Art und im Stil der Alten Meister auf Leinwand oder Holz gebracht.
Blickte man allein auf die sorgsam angelegten Gemälde, Moreaus Sprengkraft wäre allenfalls zu erahnen. Man muss schon mehr wissen – die Genese der Arbeiten kennen, Studien sehen. Und vor allem Einblick gewinnen in Moreaus Lehre, sein Verständnis von Malerei, das er seinen Schülern offenbar sehr erfolgreich zu vermitteln verstand. Es kann ja kein Zufall sein, dass sie sich so zahlreich wiederfanden zwischen den berüchtigten Fauves im legendären Herbstsalon von 1905.
Das Clemens-Sels-Museum besitzt vier Moreau-Werke und ist damit Spitze in Deutschland. Auch deshalb rückt das Haus den Symbolisten ins Zentrum des Jubiläumsprogramms. Schön, dass er dort nicht ganz alleine steht. Zumal der Blick auf die Schülerschaft Zusammenhänge öffnet, die selten zum Thema gemacht wurden. Fast 20 Jahre sind vergangen, seit sich eine Ausstellung in Mexiko City dem Gegenstand widmete.
Allerdings hätte man sich Moreaus Rolle in Neuss zwischen all den jüngeren Malern vielleicht etwas tragender gewünscht. Rund 60 Werken von Matisse, Rouault, Manguin, Marquet, Maxence, Camoin, Evenepoel stehen gut 20 Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde von Moreau gegenüber. Das wirkt etwas dünn. Doch kann man der Auswahl zu Gute halten, dass sie sehr anschaulich macht, worum es der Ausstellung geht.
FARBE DENKEN!
Zeichnungen, in denen Moreau szenische Variationen eines Themas erprobt, begegnen sprühenden Farbstudien. Im »Evangelist Johannes« etwa ballt der Maler zusammen, was der Aquarellkasten hergibt – kräftiges Blau, leuchtendes Gelb, tiefes Rot. Solche Entwürfe entstehen noch vor der Anlage einer quadrierten Zeichnung, oft ohne festes gegenständliches Gerüst. So jenes kleine Blatt, auf dem Moreau die Rückkehr der Argonauten als Farbspektakel feiert, ohne sich beschränken zu lassen von figürlichen Formen oder inhaltlichen Vorgaben. Blau, Ocker, Orange, Grün – alles fließt ineinander, und das am Mast gehisste Vlies ist nicht golden, sondern gräulich-braun.
Jetzt ist klar, was Moreau meint, wenn er seine Schüler ermahnt: »Man muss die Farbe denken, eine Vorstellung von ihr haben! Die Farbe muss gedacht, geträumt, imaginiert werden.« Realismus, Impressionismus, die Abbildung der Wirklichkeit genügen Moreau nicht. Zwar lebt er seine farblichen Freiheiten nicht immer so hemmungslos aus wie auf dem Schiff der Argonauten. Im vollendeten Werk versteht er seine Fantasie zu zügeln auf ein für das Publikum akzeptables Maß. Doch selbst im Gemälde gewinnt die gedachte Farbe zuweilen erstaunliches Gewicht. Etwa wenn es um das Martyrium des Heiligen Sebastian geht und Moreau das Blut des Gemarterten über Stock und Stein rinnen lässt, ja die Qual noch verstärkt, indem er ganze Partien des Grundes blutrot färbt.
Natürlich ging es Moreau in Kunst und Lehre um mehr als nur um die empfundene, gedachte Farbe. Er hielt seine Schüler dazu an, im Louvre zu kopieren, unterwies sie im Zeichnen nach der Antike und nach dem lebenden Modell. Was danach kommt – die Entwicklung der eigenen Bildsprache – sollte aber ganz ihre eigene Sache bleiben. In dieser Frage gab sich der Professor absolut liberal. So gingen seine Schützlinge denn auch recht unterschiedliche Wege. Manch einer blieb Moreau treu. Übte sich wie etwa Edgar Maxence in der Erzählung mythologischer Themen und ließ die Farbe im knallroten Flitzebogen eines Herkules kühn aufblitzen. Andere entwickelten die Ideen des Lehrers schon zu Studienzeiten weiter. Befreiten das Bild von der Historie und lösten die Farben noch entschiedener vom Gegenstand.
WEITER GEHT DIE GESCHICHTE IN ESSEN
Henri Manguin etwa, wenn er Jeanne mit Sonnenschirm in den klarsten Spektralfarben zum Strahlen bringt. Oder Charles Camoin, der im Porträt seiner Mutter die bezeichnenden Züge zurücktreten lässt, sich vielmehr für das in leuchtenden Flächen komponierte Interieur begeistert. Und natürlich Matisse: Seine »Lesende in violettem Kleid« wird zur Komposition aus Farben. Wer oder was dargestellt ist, erscheint unwichtig. Es kommt auf den Farbklang an, der nun nicht länger den Inhalt unterstreicht – wie noch bei Moreau –, sondern sich selbst genügt.
Wer erleben will, wie die erstaunliche Geschichte weiterging, kann sich auf den Weg nach Essen machen. Was im Clemens-Sels-Museum als »Sehnsucht« begann, wächst sich hier aus zum »Farbenrausch« mit Blockbuster-Potenzial. Es ist wieder eine jener Großausstellungen zur klassischen Moderne, mit denen das Museum Folkwang seit den 90ern auffällt. Jetzt schmückt sich erstmals RWE mit dem Titel des alleinigen Sponsors. Zuvor hatte der Konzern sein Folkwang-Engagement vor allem auf die weniger publikumsträchtige zeitgenössische Sparte gelenkt. Nun will man wohl auch einmal – wie zuvor Ruhrgas – groß heraus kommen mit »Munch, Matisse und den Expressionisten«.
Erstmals stünden hier der Norweger Edvard Munch und die französischen Fauves den deutschen Expressionisten gegenüber, so heißt es. Was verwundern könnte. Sind einem die Fauves und Munch als Anreger für Brücke und Blauen Reiter doch längst geläufig. Immer wieder mal hat man sie zusammen sehen können. Aber eben nicht alle auf einmal. Also doch eine Premiere, die wunderschöne Bildbeispiele, aber keine allzu großen Neuigkeiten offenbart.
Ungefähr dort, wo die Schau in Neuss endet, kommt die Essener in Fahrt. Im Sommer 1905, allerdings nicht in Paris, sondern an der südfranzösischen Küste. Collioure heißt das Fischerdörfchen, wo André Derain und Matisse mit reinem Pigment und tanzendem Pinsel ihren Empfindungen gehorchen und in vereinfachten Ansichten von Dorf und Hafen begründen, was wenige Monate später als Malerei der Fauves Furore machen wird.
BINNEN DREIER JAHRE DIE FARBE VOM NATURBILD BEFREIT
Die Ausstellung im Museum Folkwang beschreibt die Entstehung jener Jugend-Bewegung, die binnen drei Jahren Farbe wie Form vom Naturvorbild befreit, und zeigt, was gleichzeitig und danach bis 1911 in Deutschland die Szene bewegte, wo sich zuerst die Brücke-Künstler in Dresden und danach in Murnau und München die Maler des späteren Blauen Reiter zusammentun. Auch sie rückten das persönliche Empfinden vor dem Motiv ins Zentrum ihrer Kunst und schauten dabei intensiv auf die verwandten Neuigkeiten aus Frankreich. Nicht nur das. Auch der Blick auf den in Deutschland recht präsenten Edward Munch wird prägend für ihre expressive Sicht der Dinge. Wie sie aus all dem etwas Eigenes machten, ist in Essen zu bewundern.
Es sind Entwicklungen, die selbst einen Neuerer wie Munch frappierten, als sie ihm erstmals geballt vor Augen traten – vor 100 Jahren in der großen Sonderbundausstellung, die jetzt im Kölner Wallraf-Richartz-Museum rekonstruiert wird (K.WEST 9/2012). Munch, damals fast 50, war eigens zum Hängen seiner Bilder nach Köln gereist und offenkundig überwältigt: »Hier ist das Wildeste versammelt, das in Europa gemalt wird«, schrieb er noch am Tage der Eröffnung im Mai 1912 an einen Freund. »Ich bin nichts als ein verblichener Klassiker – der Kölner Dom wankt in seinen Grundfesten.«
Clemens-Sels-Museum, Neuss: »Sehnsucht nach Farbe – Moreau, Matisse & Co.«; bis 13. Januar 2013. Tel. 02131/904142. www.clemens-sels-museum-neuss.de
Museum Folkwang, Essen: »Im Farbenrausch – Munch, Matisse und die Expressionisten«; bis 13. Januar 2013. Tel. 0201/88-45444. www.museum-folkwang.de
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln: »1912 – Mission Moderne. Die Jahrhundertschau des Sonderbundes«; bis 30. Dezember 2012. Tel. 0221/221-21119. www.museenkoeln.de