Überall werden Blumen sein. Sie werden die ganze Bühne bedecken. »Es sah toll aus! Die Farben! Und es duftete hier im ganzen Haus«, schwärmt Jan Fabres Mitarbeiterin Katrien Bruyneel. Für eine Probe vor ein paar Tagen waren kiloweise Blumen hergeschafft worden. Nun stehen Türme eckiger leerer Plastikkübel im Gang. »Naja, ist nicht billig«, sagt sie auch noch. Höchstens ein-, zweimal werde noch eine Lieferung bestellt vor der Premiere. Aber was einige Stunden lang so extrem schön aussah, bereitete eine Weile später Probleme. »Es stank schrecklich!« In Plastiksäcke gestopft, musste die Natur übers Wochenende auf die Müllabfuhr warten und verweste. Doch das passt ganz gut zu Jan Fabre.
Und zu seinem neuen Bühnenstück, das hier in Antwerpen gerade entsteht: »Requiem für eine Metamorphose«. Nichts endet, alles wandelt sich nur. »Where have all the flowers gone?« Ein großer Kreislauf. Während sich der Uneingeweihte graust vor dem, was bei einem solchen Dekompositions- oder Kompostierungsprozess zu wimmeln beginnt, schaut Fabre – bildlich gesprochen – genau hin. Insekten bevölkern seit Jahrzehnten das künstlerische Werk des flämischen Bild-, Bühnen-, Installations- und Performancekünstlers. Nicht nur, aber am auffälligsten: Millionen von blaugrüngelb schillernden Käfern. Beim »Requiem« ist ein Schmetterling eine der Hauptfiguren. Das wunderschön geflügelte Wesen war einst weiche Raupe, die sich verhärtete und verwandelte, und wird gern als Metapher benutzt für Veränderungen, für menschliches Leben und Träumen. Das weiß jedes Kind; und ein bisschen kindlich hopst auch die Schmetterlingsdarstellerin bei der Probe in gelben Strumpfhosen über die Bühne. Nicht von Blüte zu Blüte, sondern von Szene zu Szene bringt sie Witze und Weisheiten unter die Leute, auch unter die scheinbar gestorbenen.
Bei den alten Griechen hieß das Flatterwesen Psyche. Schon Aristoteles war der Prozess der Ver- und Entpuppung bekannt: Metamorphose (griech. für Umgestaltung, Umwandlung). Einem der Begründer der Insektenforschung, Jan Swammerdam aus Amsterdam, galten Mitte des 17. Jahrhunderts die mit dem damals neuartigen Mikroskop untersuchten Tiere und ihre Verwandlung als Zeichen für die Großartigkeit göttlicher Schöpfung. Ein weiterer großer Stauner war der Franzose Jean-Henri Fabre (1823–1915), der seine entomologischen Studienobjekte mit Leidenschaft beobachtete und ihr Verhalten detailreich und geradezu einfühlsam beschrieb. Ihn trieb die Frage: »Was ist Leben?«
Seinem Urenkel Jan Fabre, Jahrgang 1958, ist diese Leidenschaft auch nicht fremd. Gerade eilt er während der Probe von der Regie-Empore hinab auf die Bühne und zeigt dem Darsteller der Entomologenrolle, wie ein Schmetterlingsnetz zu führen sei: Sachte, wie verzögert schwingt er das Netz mit kurzem Griff über etwas Imaginäres – eher ein Geben als ein Nehmen –, wendet und schaut es an, greift vorsichtig mit der anderen Hand hin. Unter der Kurve seines gebeugten Kopfs sammelt sich kurz die Kostbarkeit der Welt. Jan Fabre weiß, was er will. Das Wissen um die Sterblichkeit stellt das Leben in Frage, ja beleuchtet es vielleicht stärker – schöner und schärfer – als jede andere Methode.
»Es geht mir in jeder meiner Arbeiten um den Tod, und: Was bleibt danach?«, sagt Fabre. Seinen Werken ist das anzumerken, nicht zuletzt an den toten Käfern. In der Tanzinstallation »Angel of Death« tanzte William Forsythe im Film in einem Naturkundemuseum inmitten aufgebahrter und in Gläser gefüllter Lebewesenreste. »Tod ist surrealistisch«, zitiert Jan Fabre den ersten Satz seines Requiems, eine Eigenschaft, die er auch seiner Heimat Belgien zuschreibt. Darin schwingt eine nie endende Verwunderung mit. Nicht ohne Humor. Dabei ist es ihm ernst; er lehne Zynismus ab, sagt er und alldistanzierte Ironie, die sich manch ein Künstler als zeitgeistig cleveren Look zulege.
Zum ersten Mal hat er ein Stück mit Rollen geschrieben, fast wie konventionelles Schauspiel. »Meine früheren Texte waren immer Manifeste,« sagt Fabre, »die Charaktere waren schizophren, verschiedene Stimmen kamen da in einer Figur zu Wort«. Wie in »Étant donné« oder »L’uomo principale è una donna«, die voriges Jahr in Deutschland zu sehen waren. »Für mich ist das ein Schritt zum Neuen«, er habe diese Art Komposition jetzt gebraucht für das, was er sagen wollte.
Die 18 Rollen, die im »Requiem« zu besetzen sind, stehen für Berufe, die mit dem Tod zu tun haben, mit dem Sterben, dem Beerdigen, dem Nachdenken. »Es ist eine Hommage an diese Menschen«, sagt Fabre. »Ich habe einige von ihnen kennengelernt letztes Jahr, als ich meine Eltern verlor.« Er sagt nicht: Als sie starben. Auch seinen Eltern ist das Stück gewidmet, Edmond Fabre und Helena Troubleyn, was überrascht bei einem Künstler, der über sein Privatleben sonst nichts verlautbart. Zunächst hatte er einen Text über die beiden geschrieben; aber den fand er dann zu persönlich, erzählt er, als er nach dem kollektiven Abendessen noch eine Dose Cola leert; denn die Proben werden, wie jeden Tag, bis 22 Uhr dauern.
Das Requiem widmet sich auch den großen Toden, Katastrophen und Umwälzungen der vergangenen 20 Jahre. »Auch sie waren Metamorphosen: der Fall der Mauer, 11. September, der Tsunami,« zählt Fabre auf. Und der große Bogen zu den alten Griechen und zum Latein ist ihm wichtig. Dessen Sprüche sind unsterblich: Memento mori! Wie in Stein gemeißelt. Daneben der kleine, verletzliche menschliche Körper. Die acht Tänzer proben an dem Nachmittag bis zur Erschöpfung: Stürzen wie vom Schlag getroffen. Aufstehen. Immer wieder Hinfallen, Aufstehen.
Eine rohe, ungekünstelte Bewegungsart ist das wie damals im Solo »My movements are alone like streetdogs«, das 2002 beim Tanzfestival HEISS in Köln gastierte. 2003 war Fabre zuletzt präsent in NRW, mit der Installation »Umbraculum« bei der Dortmunder DASA. 2005 produzierte er sein letztes großes Stück, »L’histoire des larmes«, fürs Avignon-Festival. 2006 hatte er große Ausstellungen in Belgien, Anfang 2007 präsentierte er einige Werke in den USA, wo man ihm ein Symposium ausrichtete. Die kürzlich eröffnete Kunstbiennale in Venedig zeigt mit Skulpturen eingerichtete Räume von ihm: »Antropologia di una planeta«. Im Nordtrakt des Louvre wird 2008, inmitten der alten flämischen Meister, eine Fabre-Ausstellung zu sehen sein. Wo kann ein Künstler dann noch hinwollen? Seine Antwort: »RuhrTriennale«.
Gerard Mortier hatte ihm eine Operninszenierung antragen wollen, Mozart oder so. »Ich lasse mich nicht mieten«, sagt Fabre. Jürgen Flimm aber gab ihm für die Koproduktion von Salzburger Festspielen und RuhrTriennale eine »carte blanche«. In ganz Europa und Japan suchte er Tänzer und Schauspieler, wählte in diversen Auditions aus über tausend Aspiranten aus, um sein eigenes Ensemble aufzustocken. Darunter Griechen, Slowenen, Kroaten. »Ich wollte die Besten.« Gemeinsame Sprache, auch auf der Bühne, ist Englisch, und Fabre freut sich über die hörbaren Akzente, wobei er selber den »artist« zum »ortist« tendieren lässt. »Wir leben doch in Europa.« Für gute Hörbarkeit werden Mikroports sorgen; auch eine Übersetzung wird den Zuschauern zur Verfügung gestellt werden.
Der Komponist allerdings kommt von nebenan. Serge Verstockt erzählt, Fabre und er hätten oft schon beim Drink in der Kneipe beschlossen, mal zusammen zu arbeiten. (Wann Fabre bei dem Arbeitspensum noch Zeit für Drinks haben soll, muss hier offen bleiben.) Jetzt also ist es soweit. Seine Komposition entsteht während und zu Fabres Proben. Als Basis diene ihm – für elektronische und ein paar konventionelle Instrumente – ein mittelalterliches »Urrequiem«, dessen dies-irae-Teil einst mit fürchterlichsten Worten den Hörern, den Lebenden drohte. Während also in dem wunderbar neu eingerichteten Gebäudekomplex von Fabres Kunstzentrum mitten im etwas angeschmuddelten Teil Antwerpens, gegenüber einer Kirche, in der Werkstatt lebensgroße Skelette präpariert werden, um auf Rücken geschnallt zu werden, die Klingel der Schule nebenan regelmäßig und durchdringend sirrt, dröhnt aus dem Musikprobensaal etwas wie Cembalogeratter, später Metallgedonner. An die Saaldecke dort hat der berühmte Luc Tuymans als Geschenk ans Haus große rote Blutkörperchen gemalt. Als vier E-Gitarren unisono jenen alten mönchischen Choral anstimmen, hört es sich an, als fielen Jahrhunderte in einen einzigen Punkt zusammen. Eine Musik, die Schönheit und Schrecken vereint wie die Nadel, mit dem der Schmetterling zur Ansicht über seinen Tod hinaus fixiert wird. »This is not the end«, steht nach dem Epilog am Ende des Textes. Der Satz steht kursiv. Ein »Doors«-Zitat. Als Regieanweisung des Künstlers, vielleicht auch des Schöpfers, wird es wohl unausgesprochen bleiben.
Am 5., 7., 9., 10. und 11. September 2007 in der Jahrhunderthalle, Bochum. Tickethotline: 0700/20 02 34 56; www.ruhrtriennale.de