Text: Peter Laudenbach
Ist es eine politische Demonstration, Aktionskunst oder einfach geschmacklose Sachbeschädigung, wenn Menschenrechtsaktivisten symbolisch und natürlich illegal mitten in Berlin Gräber für die an den EU-Außengrenzen umgekommenen Flüchtlinge anlegen, zum Beispiel auf der Wiese vor dem Reichstag? War die öffentliche Ankündigung, Leichname von im Mittelmeer ertrunkenen Migranten nach Berlin zu holen, um sie hier zu beerdigen, zynisch – oder macht die Aktion nur den Zynismus der EU-Grenzpolitik und unseres Umgangs mit Menschen in Not sichtbar?
Bei ihrer bislang jüngsten Aktion »Die Toten kommen« haben die Aktivisten des Berliner »Zentrums für politische Schönheit« im vergangenen Juni einen der größten Politkunst-Aufreger der letzten Zeit ausgelöst und dabei ein paar Hundertschaften Polizei und gut 5000 Demonstranten mobilisiert. Die Ankündigung, an den EU-Außengrenzen umgekommene Tote nach Berlin zu holen, funktionierte als gezielt hergestellter Schock. Die Grenzüberschreitung (Theater mit Toten?) war so heftig, wie die Symbolik unmittelbar einleuchtend. Es folgten die Hysterie- und Skandalisierungsmechaniken des Medienbetriebs. Zwei Tote, Syrer, die beim Versuch, nach Europa zu gelangen, gestorben waren, wurden tatsächlich herbeigeschafft, um sie in der Hauptstadt, begleitet von einem Imam und gemäß den Vorschriften ihrer Religion, zu bestatten, legal und mit Einverständnis der Verwandten. Die beiden Beerdigungen auf Berliner Friedhöfen waren Versuche, den Toten ihre Würde zurückzugeben. »Dieser Mensch ist im Mittelmeer versunken. Wir versinken in einem Meer aus Egoismus. Jeder Tod ist eine Lektion. Und das ist kein Theater, sondern die Wirklichkeit«, sagte der Imam Abdallah Hajjir bei einer der Bestattungen.
Im Kern stellten die Zentrums-Leute prinzipielle Fragen: Wie geht das reiche Europa mit Menschen in Not um? Wollen wir lieber eine Empathie-fähige oder eine im Zweifel bis zur Brutalität egoistische Gesellschaft sein? Und wie kann man die Opfer der europäischen Abschottungspolitik sichtbar machen? Philipp Ruch zumindest, Spiritus Rector und künstlerischer Leiter des Zentrums, versteht seine Interventionen als Akte eines »aggressiven Humanismus«. Wie man mit solchen Aktionen größtmögliche Aufmerksamkeit erzeugt, führen Ruch und seine Kombattanten seit Jahren vor. Sie haben die Namen der Eigentümer des Panzerherstellers Kraus Maffei Wegmann recherchiert, samt Wohnort und Biografie ins Internet gestellt – und medienwirksam eine Belohnung von 25.000 Euro für Informationen ausgelobt, die die Aktionäre als »Kriegsverbrecher « ins Gefängnis bringen. Eine der Folgen: Einer der Aktionäre des Familienunternehmens, ein Kunstmaler, distanzierte sich öffentlich von den Geschäftspraktiken des Rüstungskonzerns. In einer anderen Aktion taten die Aktivisten einfach so, als sprächen sie für das Bundesfamilienministerium, das Familien suche, die bereit seien, Flüchtlingskinder aufzunehmen. Die gefakte Internetseite wirkte so echt, dass sich hunderte Interessierte meldeten. Familienministerin Schwesig hatte große Mühe, zu erklären, weshalb die Bundesregierung an dieser humanitären Hilfe kein Interesse hat. Der Menschenrechtler Rupert Neudeck war von der Aktion beeindruckt, auch weil sie raffiniert eine sehr einfache Frage stellt, nämlich, weshalb wir Menschen in Not nicht helfen. Seither sitzt Neudeck im Beirat des Zentrums.
(Lesen Sie weiter in der gedruckten Ausgabe von k.west)
»2099«, URAUFFÜHRUNG AM 19. SEPTEMBER 2015 THEATER DORTMUND.