// Als das Berliner Kunstmagazin Monopol im August 2007 eine Rangliste der vermeintlich bedeutendsten zeitgenössischen Künstler veröffentlichte, wunderte man sich zunächst: Wie kamen die für jenes Ranking befragten Museumsdirektoren, Galeristen, Kritiker und Sammler darauf, Isa Genzken an die erste Stelle zu setzen? Vor Richard Prince, Jeff Koons, John Baldessari, Gerhard Richter, Damien Hirst, Bruce Nauman, Peter Doig, Louise Bourgeois und Wolfgang Tillmans – Künstler, deren Werke in der Vergangenheit fast alle größer ausgestellt und weit mehr besprochen worden waren als die von Genzken, und die meist auch wesentlich teurer verkauft wurden. Der Alles-Aufblaser Koons und der Tiereinleger Hirst sind wahrscheinlich die einzigen lebenden bildenden Künstler, die bei einer Straßenumfrage auf nennenswerte Bekanntheitswerte kämen. Richter und Nauman sind von den ersten Zehn der Monopol-Rangliste die wohl weltweit am prominentesten in Museen Vertretenen. Prince, Baldessari und Tillmans diejenigen, die nicht nur bei Kritikern, sondern gleichzeitig auch bei avancierten Sammlern schon immer beliebt waren. Doig ist, trotz spektakulärer Auktionsergebnisse, eher ein Künstler-Künstler. Die hoch betagte Bourgeois schließlich bildhauert im Grunde schon seit Jahrzehnten außer Konkurrenz. Warum tauchten übliche Verdächtige wie Cy Twombly, Ed Ruscha, Anselm Kiefer und Sigmar Polke nicht auf den vorderen Plätzen auf, was war mit Neo Rauch und der Leipziger Schule, was mit Andreas Gursky und der Becher-Schule?
Stattdessen: Isa Genzken. Eine Künstlerin, die bis dahin keine Einzelausstellung in einem international wirklich bedeutenden Museum gehabt hatte; die nur in mittleren Häusern größer gezeigt worden war, im Museum Abteiberg Mönchengladbach (2002), in der Kunsthalle Zürich (2003), der Wiener Secession (2006) – und das nach fast 35 Jahren Kunstschaffen.
Natürlich, zu dem Zeitpunkt 2007 war Genzken außergewöhnliche Aufmerksamkeit schon deshalb sicher, weil sie gerade den deutschen Pavillon auf der Biennale von Venedig gestaltet hatte. Ihre Idee, den Bau außen einrüsten und verhängen zu lassen, war jedoch eher verhalten besprochen worden, ihre Installation »Oil« im Inneren hatte nicht gerade Begeisterungsstürme ausgelöst.
Warum, so die Frage, hatte Genzken die fast schon traditionelle künstlerische Problematisierung des deutschen Pavillons symbolisch fortgesetzt, der 1938 von Ernst Haiger zu einem pseudo-neoklassizistischen Nazi-Monument aufgeprotzt worden war, bloß um dann doch das Bauwerk per Gerüst und orangener Plane seltsam trivial zu verhüllen? Was eigentlich sollte »Oil« darstellen, diese verspiegelte Ansammlung von mondfahrenden Mutantenmodepuppen und ausgestopften Tieren, Fotografien und Koffern, alles wie bestellt und nicht abgeholt? Eine schrecklich schöne Zeitreise zugleich in Vergangenheit und Zukunft? Ein weiterer Künstlerkommentar zur Globalisierung, bloß nicht ganz so offensichtlich, nicht ganz so gut gemeint und schlecht gemacht wie die übliche Politkunst?
Sollte »Oil« die Ausstattung für einen kitschigen Science-Fiction-Film über den Horror des modernen Tourismus sein, einen Öko-Thriller in Plastikästhetik? Oder war das nur ein Insiderwitz über die ewige Reisetätigkeit der Kunstwelt, heute Venedig, morgen Basel, übermorgen sonstwo, Münster vielleicht, wo Genzken im Sommer 2007 auch zu sehen war bei der Schau »Skulptur Projekte«?
Genzkens Umgang mit dem deutschen Pavillon war längst nicht so plakativ wie der von Hans Haake, der 1993 regelrecht den Boden hatte zertrümmern lassen für »Germania«, eine symbolische Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte. Er war auch nicht so eindrücklich wie der Gregor Schneiders, der 2001 sein gespenstisches Rheydter »Haus ur« nachgebaut hatte und dafür den Goldenen Löwen gewann. Interessanter als Liam Gillicks diesjähriger Venedig-Beitrag, eine Art minimalistisches deutsches Einbauküchenrefugium, war »Oil« jedoch allemal. Diese Installation entzog sich rascher, klarer Interpretation, wie eigentlich alles im Schaffen der 60-jährigen Genzken.
Das Rätselhafte, mitunter bloß Verrätselte macht bis heute einen wesentlichen Teil am anhaltenden Reiz ihres Werkes aus. Führt andererseits aber auch dazu, dass an Genzken beispielhaft vorexerziert wurde, wie bizarr Deutungsversuche geraten können, wenn sich Künstler eben nicht eindeutig erklären, weder in ihrer Kunst noch in öffentlicher Rede. Über kaum eine zeitgenössische Künstlerin ist von Kritikern und Kuratoren ähnlich viel grauenhaft Geschraubtes verfasst worden wie über Genzken, die zurückgezogen in Berlin lebt und arbeitet.
Kaum eine andere Künstlerin hat die Katalog-Lyriker der Kunstwelt aber auch so herausgefordert mit dem Wechsel dessen, was sie eine künstlerische »Position« nennen: Genzken hat, obwohl ihr Werk hauptsächlich ein bildhauerisches ist, immer wieder die Medien gewechselt. Begonnen hat sie ihre Karriere einst mit Filmen, später arbeitete sie in Skulpturen-Serien, heute vor allem in szenisch anmutenden Installationen. Auch Themen und Inhalte scheinen sich zu ändern, es gibt in Genzkens Werk nur wenige Konstanten, etwa das offenkundige Interesse an Architektur (oder auch nur am Bauen von Architekturmodellen). Wiewohl das selten so konkret fassbar wird wie in der Serie »New Buildings for Berlin« (2001–2004) oder gar der »Ground Zero« betitelten von 2008, die sich auf die Terroranschläge in New York bezieht und offensichtlich harsche Kritik formuliert an den Wettbewerbs-Ergebnissen für die Neubebauung des Areals.
Auch Ästhetik und Materialität von Genzkens Skulpturen wechseln ständig, die abstrakten, groben, tonnenschwer anmutenden Fenster und Türen aus Beton und Metall der 90er Jahre scheinen so gar nichts gemein zu haben mit den konkreten, seltsam federleicht wirkenden Ausstattungsorgien der letzten Jahre, die in »Oil« gipfelten. Letztere Installation widerlegte eine Standardfloskel über Genzkens Arbeiten, nämlich dass deren Ästhetik bei allen formalen Brüchen eine provisorische, unfertige, unbehauene geblieben sei. Das galt noch für ihre häufig aus Baumarktmaterial wie Kunststoffflächen und Spiegelfolien gefertigten, von Klebeband zusammengehaltenen Kleinskulpturen vor zehn Jahren. Es gilt jedoch heute nicht mehr: Fertiger als »Oil« kann man sich moderne Kunst nicht vorstellen, das ist bis ins kleinste höllische Detail bearbeitete Kitschästhetik.
Konsumkritik sei das, konnte man nach Venedig lesen. Macht die kritische Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenwart also die eigentliche bleibende Faszination von Genzkens Werk aus, macht sie das zur »bedeutendsten Künstlerin der Welt«? Es wäre die Erfüllung des langweiligsten und dümmsten aller Künstlerklischees: der Künstler als kritischer Geist und Kommentator der Zeit. Es trifft im Fall von Genzken auch gar nicht zu. Denn selbst wenn sie sich einmal konkreter einlässt auf die Zeitläufte, wie etwa bei ihren neueren Architekturmodellserien, bleibt ihre Beschäftigung mit der Gegenwart doch dankenswerterweise unkonkret genug, dass sie nicht zur bloßen Kommentierung verkommt. Sondern versponnen genug ist, utopistisch oder mal plump polemisch, um Abstand zu halten von der Vergänglichkeit der Tagesaktualität. Es scheint im Gegenteil eher so, als habe sich in den letzten Jahren die Zeit mehr auf Genzken zubewegt als umgekehrt.
Womöglich war die Monopol-Liste auch (aber sicher nicht nur) Ausdruck eines schlechten Gewissens der Kunstwelt, eine Art Wiedergutmachungsgeste: Genzken ist trotz aller Wertschätzung nie entsprechend groß ausgestellt worden. Eine allzu banal klingende Erklärung dafür wäre ein privates Detail: Isa Genzken war von 1982 bis 2003 mit Gerhard Richter verheiratet, ihrem einstigen Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie. Die Karrieren der Ex-Eheleute hätten nicht unterschiedlicher verlaufen können. Richter war schon Mitte der Sechziger berühmt als Miterfinder des »Kapitalistischen Realismus«, seine rein handwerklichen Fähigkeiten als Maler waren bereits derart furchteinflößend, dass nur die Frage blieb, ob ihm langfristig konzeptuell genug einfallen würde, um nicht irgendwann als größter Schönmaler seiner Generation zu enden.
Genzken hingegen kam geradewegs aus der konträren Richtung, Konzeptkunst und Minimal Art waren von Beginn an ihre wichtigsten, sichtbarsten Einflüsse. Schon deshalb war es nicht unwahrscheinlich, dass ihr Werk niemals ein ähnlich unmittelbares Beeindruckungspotenzial haben würde wie das Richters.
Im Rückblick jedoch scheint es seltsam, dass Genzken trotz ihrer enormen Produktivität und erstaunlichen Vielseitigkeit nie auch nur annähernd so prominent präsentiert wurde wie Richter – und sich das erst nach der Trennung allmählich änderte, ohne dass man dafür eine aktuelle stilistische Neuausrichtung verantwortlich machen konnte. Von denen hatte es zuvor schon genug gegeben in Genzkens Karriere, dass man sie als Anlass für große Schauen hätte hernehmen können. Es schien fast so, als habe sich die Kunstwelt nicht wirklich an sie herangetraut, solange sie mit Richter verheiratet war; als habe man sie belassen wollen, wo sie zwei Jahrzehnte verbracht hatte, als geschätzte Künstlerin, aber im Schatten eines noch Geschätzteren.
Isa Genzken musste 60 Jahre alt werden für ihre erste große Retrospektive. Dafür wird sie nun umso heftiger gefeiert: Die Whitechapel Gallery, wichtigstes Museum für zeitgenössische Kunst in London neben der Tate Modern, wurde nach zweijährigem Um- und Ausbau im April mit jener Genzken-Retrospektive wiedereröffnet, die ab 15. August im Museum Ludwig gezeigt wird. Die ist so umfassend, wie ein Rückblick auf 35 Jahre Kunstschaffen nur sein kann. Nach der großen, aber nicht eben großartigen Koons-Show in der Neuen Nationalgalerie Berlin im Frühjahr ist sie erst die zweite absehbare Blockbuster-Ausstellung im deutschen Museumskalender 09 – die unvergleichlich substanzvollere.
Entsprechend abgemüht hat man sich mit dem ebenso umfangreichen Katalog, in dem sich zwanzig Autoren an ihrem Werk abarbeiten, glücklicherweise lesbarer, als bislang gewohnt. Der Ausstellungskatalog zu »Sesam öffne dich!«, wie die Schau betitelt ist, liefert endlich adäquate Erklärungen zu Genzken.
Ist sie also die bedeutendste Künstlerin unserer Zeit, wie jene Rangliste vor zwei Jahren behauptete? Man muss das auch nach dieser Retrospektive nicht so sehen. Aber man kann. //
15. August bis 15. November 2009, Museum Ludwig, Köln; Katalog, Verlag der Buchhandlung Walther König, 250 S., 48 Euro. www.museum-ludwig.de