Es ist ein langer, steiler Weg, den Rahim Soltani nehmen muss, nicht nur, als er das Gefängnis verlässt, das ihm zwei Tage Ausgang gewährt. Zuerst fährt er eine Strecke mit dem Taxi, steigt aus in einer Wüstenlandschaft, in der sich ein gewaltiges Felsmassiv erhebt: das Monument des Grabmals von Xerxes. Er klettert die Treppen im hohen Gerüst hinauf, wo die Handwerker arbeiten, um mit Hossein zu reden, dem Mann seiner Schwester Mali, bei der sein kleiner Sohn lebt.
Asghar Farhadi begleitet – in einer Kreisbewegung bis zur Haft-Rückkehr – Rahim und sein Geschick als stiller Beobachter. Er legt Zeugnis ab für die Geschichte, so verworren, wie ein Leben es sein kann. Der Regisseur, Oscar- und Goldener-Bär-Gewinner für das Ehedrama »Nader und Simin«, ist der Protokollant der iranischen Gesellschaft und Gegenwart und ihrer Konflikte, familiären Krisen, behördlichen Ordnung und sozialen Strukturen. Der Warteraum vor der Amtsstube des Gesetzes ist für Farhadi ebenso wie für Kafka der Ur-Ort seiner Erzählungen. Eine Welt, in der Gespräche Verdächtigungen, Beschuldigungen, Verhöre, Anklagen und Aussagen sind.
Rahim wurde verurteilt, weil er seine Schulden nicht zahlen konnte. Der Schuldner – sein früherer Schwager, seit Rahim von seiner Frau geschieden ist – würde womöglich die Klage zurückziehen, wenn Rahim einen Teil der Summe aufbringen könnte. Die Familie seiner Schwester überlegt, den Rest als Bürgschaft zu übernehmen. Rahim wäre frei.
Rahims Braut hat eine Handtasche gefunden, die eine Menge Gold enthält. Beide überlegen, ob sie den Fund behalten sollen. Rahim wäre aus seiner Zwangslage befreit. Aber sein Gewissen entscheidet anders. Er macht einen Aushang und wird zunächst als ehrlicher Finder gefeiert, nachdem sich eine Frau als Eigentümerin der 17 Goldmünzen gemeldet hatte und sie abholt, um mit ihnen ohne Angabe ihrer Adresse zu verschwinden.
Rahim ist nun gut beleumundet, das Fernsehen bringt einen Beitrag über ihn, die Gefängnisbehörde schmückt sich mit ihm, ein Wohltätigkeitsverein sammelt Spenden für die Schulden, die Stadtverwaltung offeriert ihm eine Stellung. Anstand wird belohnt. Aber nur einen Moment lang, dann kehrt das Glück sich ab. Misstrauen tritt an seine Stelle. Rahim müht sich ab, seine Ehre zu retten, nicht als Betrüger dazustehen, seine Halbwahrheiten zu beglaubigen, indem er neue Lügen ersinnt. Die Moral ist ein seltsames Wesen. Sie verändert ihre Gestalt, je nachdem, wer sie betrachtet.
Stellen wir uns vor, diese Geschichte hätte Sidney Pollack mit Dustin Hoffman gedreht – es wäre ein ganz anderer Film. Amir Jadidi als Rahim hat ein Staunen im Blick, das ihn durch das Konstrukt, zu dem sein Leben geworden ist, trägt, nicht aufsässig gegenüber den Prüfungen des Schicksals, sondern ergeben, demütig. Er verliert sein Gesicht. Uns diesen Vorgang zu zeigen, darin liegt Farhadis magische Begabung.
»A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani«, Regie: Asghar Farhadi, Iran 2021, 127 Min., Start: 31. März