TEXT: LAURA STRACK
»Komm mit!« Die Botschaft der stummen Geste ist eindeutig. Nach und nach erheben sich die Zuschauer von den kleinen Bänken und folgen dem freundlichen Herrn mit Hut auf einer Spur aus Papierschnipseln hinaus ins Foyer des Helios Theaters Hamm. Dort warten kniehohe Tischchen und ein paar bunte Kreidestücke auf sie. »Hinterlasst eure Spuren!«, lautet die Einladung, und alsbald hocken die ausnahmsweise einmal erwachsenen Besucher des Kinder- und Jugendtheaters auf dem roten Tanzboden, den Kreidestummel in der Hand.
Keine Viertelstunde später sitzt Schauspieler Michael Lurse – nun ohne Hut – im Kreis einer Gesprächsrunde. Neben Helios-Chefin Barbara Kölling und Andrea Kramer vom Consol Theater Gelsenkirchen sind auch die jungen Performer des Kollektivs »Skart« gekommen, die in Hamburg experimentelles Jugendtheater entwickeln. Anna Eitzeroth vom bildungspolitischen Projekt »Wege ins Theater« aus Frankfurt vertritt die Seite der Förderer. Außerdem zugegen: rund 20 Gäste aus dem Publikum, die Erdnüsse knacken, lauschen und sich von Zeit zu Zeit ins Gespräch einklinken.
Es herrscht gastfreundliche Atmosphäre – dafür haben Felizitas Kleine und Johanna-Yasirra Kluhs vom Theatertreffen »Favoriten 2014« gesorgt. Wie bei den vorangegangenen »Erkundigungen«, der Gesprächsreihe im Vorfeld des Festivals, die nach Bielefeld, Essen, Düsseldorf führte, sollen sich auch dieses Mal alle eingeladen fühlen teilzunehmen, Fragen zu stellen und vielleicht sogar Sand ins Diskursgetriebe zu streuen. Heute geht es ums Theater für die Allerkleinsten. Was kann das ›große‹ Theater vom ›kleinen‹ lernen? Mit seinen Strategien der Unmittelbarkeit, der Musikalität und der stillen Poesie scheint das Kindertheater den Nerv der Zeit zu treffen: Es will keinen Inhalt vermitteln, keine politische Botschaft senden, keine psychologische Verwicklung darstellen, sondern vielmehr einladen, Materialien, Körper und Umgebung spielerisch zu erforschen und dem ›Singen der Dinge‹ unbefangen zu lauschen.
KINDER WAREN IMMER MIT DABEI
In seiner 30-jährigen Geschichte hat sich das Festival »Favoriten« immer wieder darum bemüht, der vernachlässigten Sparte Kindertheater Tribut zu zollen und sie als integralen Bestandteil einer heterogenen Theaterlandschaft zu betrachten. Das wissen auch die beiden künstlerischen Leiterinnen der diesjährigen Ausgabe. Tagelang haben Kluhs und Kleine die Programmbücher der vorangegangen »Favoriten« gewälzt und sich detailliert mit den Handschriften ihrer Vorgänger auseinandergesetzt. »Es ist uns wichtig, einen bewussten und beweglichen Umgang mit der Geschichte des Festivals zu finden«, so Kluhs. Mit den »Favoriten 2014« wollten sie keineswegs eine künstlerische Revolution vom Zaun brechen, sondern vielmehr im Dialog mit allen Beteiligten erforschen, welche Notwendigkeiten, Leerstellen und Fragen die Gegenwart aufwerfe.
Als das Festival 1985 unter dem Namen »Theaterzwang« mit dem Anliegen an den Start ging, eine Präsentationsplattform für die Freie Szene zu bieten, sah die Bühnenlandschaft hierzulande noch ganz anders aus. Den unabhängigen Gruppen, für die das Aufbegehren gegen ein als verstaubt empfundenes Stadttheater essentiell war, fehlte neben Fördermöglichkeiten und einer funktionierenden Produktions-Infrastruktur vor allem eines – Sichtbarkeit. »Theaterzwang« entstand als Antwort auf einen Mangel, den auch die damals gegründeten »freien Häuser« wie das Pumpenhaus in Münster zu beheben suchten.
Doch bereits im Jahr 2008, als mit der Verwandlung zum Kuratorenfestival »Favoriten« ein konzeptueller Wechsel erfolgte, hatte sich die Ausgangslage verändert. Statt Protesthaltung und ästhetischer Revolution stand nunmehr die kritische Reflexion der eigenen Arbeitsmethoden und der zwischenzeitlich geschaffenen Produktionsstrukturen im Mittelpunkt. In Folge dieser selbstkritischen Befragung entstanden unzählige, häufig interdisziplinär arbeitende Kooperativen, die gemeinsam mit den Spielstätten immer mehr Formate der Zusammenarbeit entwickelten. Heute könnte man fast von einer Re-Institutionalisierung der freien Szene sprechen. Häuser wie der Ringlokschuppen Mülheim oder das FFT Düsseldorf bieten unabhängigen Theatergruppen Proben- und Aufführungsräume, logistische und administrative Unterstützung sowie einen engen Dialog auf künstlerischer Ebene. In verschiedenen Festivalformaten sind diese Häuser außerdem darum bemüht, künstlerische Zusammenarbeit zu katalysieren. Von einem Problem der Unsichtbarkeit kann also – auch beim Blick in die lokalen und (eingeschränkt) die überregionalen Feuilletons – keine Rede mehr sein.
ZIEL ERREICHT?
Was bedeutet das für das Festival? »Sie haben Ihr Ziel erreicht« in der Wiederholungsschleife? Keineswegs, meinen Kluhs und Kleine: Strukturelle Veränderungen schaffen neue Aufgaben. In der Tendenz zum vernetzten Arbeiten sehen sie eine Entsprechung zur Gesellschaft der Gegenwart, die ihrerseits neue Bedürfnisse entwickle. In einem Zeitalter des ›Mit‹, das ethnische, politische und soziale Heterogenität als Potenzial feiert, werde nämlich Eines immer stärker: der Wunsch nach dem Zusammensein. Ein Theaterfestival von heute müsse seine Chance nutzen, eine »Zeitraumökonomie der Begegnung« zu eröffnen, in der sich jeder willkommen fühle und in der Fragen gestellt, Bedenken geäußert, Meinungen kommuniziert und diskutiert werden können. Kleine und Kluhs verstehen sich als Moderatorinnen, die Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen.
Noch bis zum Startschuss der »Favoriten« im Oktober lädt das Leitungsduo zum monatlichen Gesprächsabend ein, der an einem ausgewählten Schauplatz der freien Szene in NRW stattfindet und ausgehend von einer Theatererfahrung aktuelle kulturpolitische und -theoretische Fragestellungen »erkundigt«. Neben »Experten« aus Theorie und Praxis sind die Zuschauer eingeladen mitzudiskutieren.
Der Aspekt des gemeinsamen »Zeitvertreibs« ist dabei für Kluhs und Kleine programmatisch. Um jeden Preis möchten sie verhindern, dass das Festival zu einer Art Schaustellersalon aktueller Produktionen verkommt, bei dem man vor allem auf die Wahrung des eigenen Gesichts bedacht ist. Von derartigen Showcase-Erfahrungen gebe es in einer Gesellschaft der Selbstoptimierer, Freelancer und Imagekünstler schon genug. Die Initiative der Kuratorinnen ziele vielmehr darauf, »Zeitraumgefüge« ausfindig zu machen, die als »produktive Bremse« zum gemeinsamen Verweilen einladen. Um den neoliberalen Wertmaßstäben der Repräsentativität und der Wettbewerbsfähigkeit von vornherein den Garaus zu machen, haben die Kuratorinnen mit dem Stückwettbewerb kurzerhand einen bislang wesentlichen Bestandteil der »Favoriten« gestrichen. Begegnung statt Konkurrenz, Teilen statt Gewinn, Austausch statt Werkschau.
»Wir wollen ein wenig an der Zeitschraube drehen«, sagt Kluhs und meint damit zweierlei. Einerseits einen wissenden und offenen Umgang mit der eigenen Geschichte, die aufmerksame Beobachtung der eigenen Gegenwart sowie den engagierten Entwurf einer gemeinsamen Zukunft. Andererseits eine »Praxis der Begegnung«, die der temporeichen Marktgesellschaft ein »Anderes« entgegensetzt, bewusst Risse und Lücken in den schnellen Strom der Zeit hineinkomponiert und in Momenten des Innehaltens eine Öffnung auf Unerwartetes ermöglicht.
Das 16. Festival Freier Theater NRW »Favoriten« findet vom 25. Oktober bis 1. November 2014 in Dortmund statt. Die nächsten »Erkundigungen« starten am 3. Mai 2014, 19 Uhr, im Westfälischen Kunstverein Münster. Titel: »Tohuwabohu. Zu Gast bei der Bildenden Kunst«. Zu sehen ist Philippe Blanchard mit »This is that«. Im Gespräch geht es danach um Kooperationen zwischen Bildenden und Darstellenden Künsten. Am 14. Juni geht es in der Fabrik Heeder in Krefeld weiter: »She wanted to know which maid of Marie Antoinette’s she was« in der Choreografie von Yuta Hamaguchi; danach »Bühne in Buchstaben. Strategien der Übersetzung.« K.WEST ist Medienpartner.
www.favoriten2014.de + www.pumpenhaus.de + www.krefeld.de/heeder