Ein fernsehender Hase, ein streunender Hund, dazu herumlungernde Katzen, Vögel und anderes Getier in einem Wohnzimmer – bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, die Jury des Marler Video-Kunst-Preises habe sich bei der Auswahl für dessen nun zwölfte Vergabe einen tierischen Spaß machen wollen. Obwohl die entsprechenden Videos gar nicht lustig sind. Und wenigstens kommen außer in denen von Yvonne Leinfelder (Hase), Alexander Hein (Hund) und Corinna Schmidt (die ganze Resttierschar) in den insgesamt 20 Videos, die ab 18. Juni im Skulpturenmuseum Glaskasten in Marl gezeigt und unter denen der zweijährig vergebene Preis sowie diesmal zwei Sonderpreise und ein Produktionspreis der Kunsthochschule für Medien Köln vergeben werden, noch einige weniger niedlich anzuschauende Sachen vor: ein Haus voller Leichen zum Beispiel, Filmerschießungen, bei denen das Blut nur so spritzt – und Leni Riefenstahl. Letztere aber nur als filmischer Blue Print für Rexi Tom Weller und Ruben Malchow, die mit »Fest der Liebe« eine einstellungsgetreue Kurz-Coverversion von Riefenstahls Olympia-Filmen »Fest der Völker« und »Fest der Schönheit« angefertigt haben. Die gestählten Athletenkörper der Ursprungsfilme wurden durch eher durchschnittliche Mis-Shapes ausgetauscht, durch Fette, Alte, Zwerge. Das ist weder besonders originell noch besonders lustig oder gar weiterführend in der bleibenden Diskussion um die so problematische wie wegweisende Ästhetik der verstorbenen Regisseurin und Fotografin. Die Vorhersage, dass »Fest der Liebe« kaum für einen der Marler Preise infrage kommen würde, bedurfte keiner seherischen Fähigkeiten. Es ist einer der schlechteren unter ansonsten größtenteils guten, wenngleich selten herausragenden Beiträgen dieses Marler Jahrgangs.
Der im zweijährigen Turnus ausgetragene Wettbewerb, an dem ausschließlich in Deutschland lebende Künstler teilnehmen dürfen, versammelte jedenfalls in der Spitze schon einmal prominentere Vi- deokünstler – der erste Preisträger war 1984 immerhin Marcel Odenbach, einer der bis heute wichtigsten Vertreter des Genres. Wobei die technische Qualität der Beiträge – auch die gehört zu den Kriterien für die Preisfindung – diesmal fraglos besser ist als in manchen früheren Jahrgängen. Dieser Umstand aber entspricht der allgemeinen Entwicklung des Genres und ist zu großen Teilen der Entwicklung der Technik und dem leichteren Zugang zu ihr geschuldet. Das alles aber sagt wenig über die künstlerische Qualität aus: Yvonne Leinfelders statische Hasen-Beobachtung »Yoma« etwa ist eher ein siebenminütiges Geduldsspiel mit dem Zuschauer als eine beachtenswerte filmische Leistung. Der im Dunkeln offenkundig vor einem Fernseher mit einem akustisch wild um sich schlagenden japanischen Filmprogramm geparkte Hase mümmelt halt so vor sich hin, und auch wenn man diesem Bild eine gewisse kontemplative Stimmung nachsagen könnte: Richtig spannend ist das jetzt nicht unbedingt.
Wie man aus einer statischen Bildführung indes ein enorm atmosphärisches Kurzvideo entwickeln kann, zeigt »Driver« von Martin Brand. Aus sicherster Entfernung beobachtet die Kamera ein Mädchen, es steht kaugummikauend und offenbar nichtsahnend am Rande einer Kirmes-Autoskooter-Fläche. Das eigentliche Geschehen ist völlig uninteressant, es passiert ja auch nicht wirklich etwas in diesen sechs Minuten Video, durch den Vordergrund fahren schemenhaft die Autoskooter, und das Mädchen schaut halt zu. Doch durch die Entschleunigung der Zeitlupe, mit der dieses Nichtgeschehen gezeigt wird, und durch den zäh repetierten Loop-Soundtrack bekommt »Driver « eine ätherische, fast romantisierende Qualität: Was denkt sie?, fragt sich der Zuschauer unwillkürlich.
Dass sich Brand hier genau jener künstlerischer Mittel bedient, die auch der Fotograf Beat Streuli in seinen Passantenbeobachtungen (zu denen es im Vergleich zu Streulis Fotografien weniger bekannte und allerdings stumme Videos gibt) verwendet – geschenkt, solange das so eindrückliche Ergebnisse zeitigt. Überhaupt sind zeitliche Zerdehnungseffekte ein Hauptstilmittel der diesjährigen Marler Auswahl, da spiegelt sie die allgemeine Entwicklung in der Videokunst wider: Die Zeit der rasenden Bildfolgen ist lange vorbei. Das filmische Erzähltempo, so man denn von Erzählen in den häufig abstrakten Nichtplots der Videokunst sprechen kann, ist meist gemäßigt bis behäbig, häufig bis an den Rand totalen Stillstands abgebremst. So etwa bei den ins Surreale kippenden Wolken- und Meerbildern bei Norman Richters Wettbewerbsbeitrag »Sun In An Empty Room«, in denen eine seltsame Strandgesellschaft bis zur Bewegungslosigkeit erstarrt unter der glühenden Sonne. Und selbst da, wo Geschwindigkeit aufgenommen und bis zum Anschlag erhöht wird, und zwar nicht notwendigerweise mit rein filmischen Mitteln, ist der Effekt ein erratischer: Stefan Panhans etwa lässt in »7 bis 10 Millionen« einen Parkaträger in unmenschlicher Geschwindigkeit und in die erneut statische Kamera hinein eine einigermaßen seltsame Suada so herunterrappen, dass man schnellstmöglich geistig abschaltet.
Während Daniel Burkhardt, der für »Grundlos« einen der beiden Marler Sonderpreise erhält, die Pflasteroberfläche eines Platzes so mit drei verschieden positionierten Kameras abgefilmt hat, dass die später ineinander montierten Einstellungen nur mehr ein rasendes Flimmern ergeben, dem sich das Auge still ergibt. Die optische Täuschung wird erst bewusst, als am Ende des nicht einmal dreiminütigen Videos ein älteres Paar gemäßigten Schrittes durchs Bild schlendert.
Die Jury-Entscheidung für Burkhardt ist ebenso richtig und nachvollziehbar angesichts der Konkurrenz wie diejenige für Magdalena von Rudy, die den Hauptpreis erhält, für Florian Gwinner (zweiter Sonderpreis) und für Anja Vormann und Gunnar Friel (Produktionspreis der KHM): Es sind formal und inhaltlich die überzeugendsten Arbeiten. Wobei der Hauptpreis an ein Video geht, das sich allenfalls durch seine Doppelprojektion von einem herkömmlichen Kurzfilm unterscheidet. Von Rudy doppelt mit zwei Darstellerinnen in »Persona Syndrom« eine Szene aus Ingmar Bergmans »Persona«, aus dem Off ertönt der schwedische Originalton, der von zwei jungen Frauen und einer seltsam bedrückenden sexuellen Ausschweifung handelt.
Dadurch, dass von Rudy eine ihrer Darstellerinnen die deutsche Übersetzung sprechen lässt, während die andere neben ihr still verharrt, wird Bergmans Szene zugleich nacherzählt wie dekonstruiert, denn auch in dieser gibt es die Rollenverteilung von einer aktiv handelnden und einer passiv das Geschehen über sich ergehen lassenden Frau, die von Rudy nun ebenso poetisch wie düster überhöht wird.
Die anderen Siegerbeiträge sowohl von Vormann/Friel wie Gwinner hingegen beschäftigen sich thematisch mit dem Verhältnis von virtueller und natürlicher Welt. Gwinner fährt mit der Kamera eine Architekturmodell- Landschaft ab, die sich langsam zur lebensweltlichen Umgebung eines Arbeitszimmers wandelt. Vormann/Friel hingegen zitieren das Layout und die Spielführung eines Ego-Shooters, aber tauschen die Kampfszenerie der verschachtelten Computerlandschaften dieser Massakerspiele aus gegen eine freie Traumumgebung fliegender Bäume. Auch diese beiden Beiträgen spüren wie »Persona Syndrom« einer Poesie des Unwahrscheinlichen nach, nur dass von Rudy diese mit größtmöglicher filmischer Distanz in menschlichen Beziehungen sucht, während »Das Modell« (Gwinner) und »Call Of Flying Trees« (Vormann/Friel) dies in digitalen Ersatzwelten tun. Das also könnte eine interessante Tendenz des diesjährigen Marler Video-Kunst-Preises sein: Die Videokunst in Deutschland macht sich auf die Suche nach der Poesie. Das sieht im besten Fall gar nicht mal schlecht aus.
12. Marler Video-Kunst-Preis und 5 Installationen aus der Sammlung Olbricht, 18. Juni bis 13. August. Tel.: 02365/99-22 57. www.marl.de/Marl_Kulturell/museen/Skulpturenmuseum/ skulpturen/skulpturen.htm. Bericht über die Preisträger in WestART (WDR Fernsehen) 8.6., 22.30 h