Immer dagegen zu sein, ist ganz schön anstrengend. Das gilt auch für Tocotronic. Lange Jahre schien sich die Band vor allem darüber zu definieren, was sie nicht sein wollte. Sie wollte nicht zur »Hamburger Schule« gehören, wollte nicht von den falschen Menschen gehört werden und schon gar nicht Flaggschiff eines wie auch immer gearteten deutschsprachigen Pop-Revivals sein. Die zur Schau getragene Antihaltung konnte auch mal nerven. So 1996, als Tocotronic von Viva eingeladen wurden, einen Preis anzunehmen. »Jung, deutsch, auf dem Weg nach oben« hieß die Kategorie, ein selten blöder Name, schon klar. Eine souveräne Haltung hätte darin bestanden, zu Hause zu bleiben und Viva Viva sein zu lassen. Stattdessen traten Dirk von Lowtzow & Co. bei der Verleihung auf, nur um vor laufenden Kameras zu bekunden, dass sie nicht stolz darauf seien, jung und deutsch zu sein. Und was den Weg nach oben angehe, da wisse man auch nicht so recht. Ein Nachgeschmack von Selbstgerechtigkeit und Political correctness blieb.
Das ist natürlich lange her und vergeben. Abgesehen davon: Besser als die affirmativen und befindlichskeitsfixierten Deutsch-Popper der Neon-Generation sind Tocotronic allemal. Und was wären wir ohne unsterbliche Songtitel wie »Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk«, »Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren« oder »Die Welt kann mich nicht mehr verstehen.«
Wahrscheinlich brauchen wir Tocotronic heute mehr denn je. Und langsam fällt es ja auch leichter, die Hamburger wirklich zu mögen, statt sie nur intellektuell wichtig zu finden. Bei der Band scheint nämlich eine gewisse Altersmilde einzusetzen. Auf Festivals sieht man sie schon mal lächeln, Interview-Partner werden nicht mehr auf eine hidden agenda abgeklopft, und manchmal kriegt man auch mal raus, wofür die Band eintritt, nicht nur wogegen.
Am Ende dieser Entwicklung hätte eine echte Pop-Platte stehen können. Tut sie aber nicht. »Schall und Wahn«, das neue Album, ist mit Sicherheit nicht das zugänglichste der Band geworden. Zumindest textlich. Lowtzow neigt mehr denn je zur freien Assoziation, die Themen werden eher angedeutet als ausdiskutiert. Was kein Nachteil sein muss. Musikalisch wirkt das Ganze schon etwas geradliniger. Es gibt Grunge-hafte Krachmacher (»Ein leiser Hauch von Terror«), stille Akustikstücke (»Im Zweifel für den Zweifel«) und barock instrumentierte Epen wie »Gift«. Vieles klingt erfrischend altmodisch und unhip – keine elektronischen Einsprengsel, keine Synthies, keine 80er-Referenzen oder womit man sonst derzeit punkten kann. Und dazwischen immer mal wieder diese Endlich-sagt-es-mal-jemand-Momente, für die Tocotronic ja berühmt sind. »Macht es nicht selbst«, zum Beispiel, diese Hymne wider den Selbstverwirklichungs-Terror. Ein wichtiger und, ja, sogar ein lustiger Song. Solange Tocotronic den Irrsinn so schön benennen können, sind sie auch ein Schutz dagegen.
Tocotronic: »Schall & Wahn«, erschienen bei Vertigo/Universal