Das Label Aggro-Berlin hatte in der ersten Hälfte der Nuller-Jahre zahlreiche Stars hervorgebracht und noch viel mehr wollten es Sido, Bushido und Fler nachmachen. Aggro-Berlin stand bis zu seiner Auflösung 2006 für deutschsprachigen Gangsta-Rap. Man orientierte sich an den Vorbildern aus den USA, sang über Bandenkriege, Drogen und das harte Leben auf der Straße, auch wenn der Wedding im Vergleich zu West-Los-Angeles eher ein großer Kinderspielplatz war.
Einer der Berliner Jungs, der es den Großen nachmachen wollte, war Denis Cuspert alias Deso Dogg. Drei Alben veröffentlichte Cuspert, sie hießen »Schwarzer Engel« oder »Alle Augen auf mich« und hatten Eines gemeinsam: Kaum jemand wollte sie hören. Erst Jahre später, als er längst seine Rap-Karriere beendet hatte, gelangen Cuspert wirkliche Hits. »Fürchtet Allah«, »Ja wir kämpfen Fisbailillah« oder »Al-Jahnah Al-Jahnnah« hießen sie. »Ich wünsche mir den Tod und kann ihn nicht erwarten, bewaffnet mit Bomben und Granaten«, singt Cuspert in einem Stück, veröffentlicht von der Globalen Islamischen Medien Front und viele Tausend Male bis heute im Internet geteilt und gehört. Cusperts Djihad-Hits haben allerdings mit Rap nichts zu tun. Sie stehen in der Tradition der Naschids, der frommen Gesänge zur Lobpreisung Allahs und des Korans.
Der Islam hat kein Problem mit Musik: Es gibt rappende Muslime, muslimische Popstars von internationalem Format wie den Algerier Cheb Khaled und Schlagersänger, denen die ganze arabische Welt zu Füßen liegt. In Indonesien, dem Land mit der größten muslimischen Bevölkerung, war »Indonesian Idol« ein ebenso großer Erfolg wie »Deutschland sucht den Superstar« hierzulande. Aber es gibt auch den Salafismus, die radikale Auslegung des Islams, die sich an den Überlieferungen der Gefährten Mohammeds orientiert und den Koran wortwörtlich auslegt. Und für radikale Muslime ist Musik verboten.
Pierre Vogel, der bekannteste Salafist Deutschlands, antwortet auf die Frage einer seiner Anhänger, ob er auch zu denjenigen gehöre, »die die Musik für erlaubt erklären?«, mit zwei Zitaten aus den Hadithen, den Büchern, die das Leben Mohammeds beschreiben: »Der Prophet, Sall Allahu ’alayhi wa Sallam, sagte: ›Wahrlich, es werden Leute aus meiner Ummah kommen, die Unzucht, Seide, Alkohol und Musikinstrumente für erlaubt erklären werden‹. Die Musik intensiviert die Heuchelei im Herzen.«
Musik ist für Salafisten so wenig erlaubt wie Theater. Der Grund: Beides kommt im Koran nicht vor. Vor allem das Theater gilt als besonders verwerflich, denn diese Kunst hat ihren Ursprung im heidnischen Griechenland.
Eine Ausnahme stellen die Naschids dar. Auch sie sind in radikalislamistischen Kreisen nicht unumstritten, denn trotz ihrer immer frommen Inhalte könnten sie von der Lektüre des Korans abhalten. Und weil sie gut klingen, zudem dazu verführen, sie oft zu hören, so dass noch weniger Zeit für die Lektüre des Korans bliebe. Auch dass die frommen Gesänge, ursprünglich von mehreren Männern im Chor vorgetragen, ihre Herkunft im Sufismus haben, der von den Salafisten zutiefst verachteten mystischen Variante des Islams, macht ihre Akzeptanz nicht einfacher.
Doch sie werden geduldet. Seit den 1980er Jahren sind die Naschids der Soundtrack des Djihads, eine Ausnahme, geschuldet seiner propagandistischen Wirkung. Im Gegensatz zu traditionellen Naschids, wie sie beispielsweise Yusuf Islam, bekannter aus seiner Zeit als Songwriter Cat Stevens, heute aufführt, wird bei ihnen auch auf die Trommel verzichtet. Eine Fatwa des ständigen »Ausschuss für wissenschaftliche Forschung und Rechtsgutachten sowie Mission und Rechtleitung im Königreich Saudi Arabien« hatte die trommellosen Naschids erlaubt.
Die nun zu Hass-Musik transformierten religiösen Stücke wurden anfangs wie die Reden radikaler Imame über Kassetten verbreitet. Heute kursieren sie in tausenden Youtube-Videos oder stehen als Musikdateien zum Download bereit.
Die religiöse Dimension der Musik, ihre Tradition, steht dabei für die jungen Gotteskrieger nicht im Vordergrund. »Von der Funktion her ist es Hintergrundmusik«, sagt der Münsteraner Politikwissenschaftler Aladin El-Mafaalani, der sich mit den jugendkulturellen Aspekten des Djihadismus in Deutschland befasst.
Aber es ist eine Hintergrundmusik, die das Lebensgefühl vieler junger Männer und Frauen besser trifft, als es der Gangsta-Rap tat, in dem Deso Dogg seine Wurzeln hatte. Die Erzählungen des jungen Kämpfers aus dem Ghetto, dessen Leben jederzeit durch die Mitglieder rivalisierender Gangs oder durch eine Polizeikugel beendet werden konnte, hatte mit der Lebenswirklichkeit in Deutschland nicht viel zu tun und wirkte etwas lächerlich. Die Zahl der Todesopfer durch Schusswaffengebrauch ist bei uns deutlich geringer als in den USA, der Heimat des Gangsta-Raps. Und unsere Polizei und das hiesige Justizsystem sind auch nicht mit ihren Schwesterorganisationen in den USA zu vergleichen. Statt langer Jahre hinter Gittern drohen hier jugendlichen Delinquenten Diskussionen mit Sozialarbeitern und Psychologen. Womöglich auch kein Vergnügen, aber doch eine weniger harte Form der Strafverfolgung.
Die Erzählungen über die Djihad, den Kampf gegen die Ungläubigen und den Wegzug aus der Heimat, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen, gehören da wesentlich eher zur Alltagswelt. Hunderte, vielleicht sogar über tausend Männer und Frauen sind von Deutschland aus nach Syrien und in den Irak gezogen. Viele mittlerweile zurückgekehrt. Sie sind Teil der Lebenswirklichkeit vieler Jugendlicher, ihre Videos werden in den sozialen Netzwerken geteilt; wenn sie sterben, werden sie als Märtyrer verehrt.
Die Naschids und die Ablehnung von Musik, das Verbot von Instrumenten, bilden nur einen Bereich der kulturellen Abgrenzung. Sie spiegelt sich auch in der Ästhetik des militanten Salafismus: Viele Videos sind mit aufwändigen Kalligrafien arabischer Schriftzeichen verziert, einer Kunstform, die schon zu Zeiten Mohammeds im arabischen Raum in Blüte stand. Nicht nur im Denken, auch in ihrem Äußeren beziehen sich die Salafisten auf die Epoche Mohammeds und der ersten Kalifen. Deutlich wird das in der Kleidung: Viele Männer tragen Kaftan und Hochwasserhosen, die Frauen sind tief verschleiert. Die Häkelmütze gilt wie der Bart als Ausweis starker Religiosität. Das alles hat mehr mit Rückprojektion aus heutiger Perspektive zu tun, als mit der Übernahme historischer Wirklichkeit des spätantiken Arabien.
Zwar kannte der frühe Islam eine starke Ablehnung urbanen Lebens und war von einer puritanischen Soldatenethik geprägt, aber an der Schnittstelle zwischen dem Perserreich und Byzanz lag ein Kriegsgrund auch immer in der Aussicht auf Beute – die bestand aus Handelswaren, die mit Karawanen durch Arabien transportiert wurden und aus dem Besitz der Bewohner geplünderter Städte. Ob das Gros der Soldaten der ersten muslimischen Heere, die mit einzigartiger Geschwindigkeit ein Großreich errichteten, den heute verehrten Puritanismus auch lebte, weiß genau niemand. Ein Ideal war er sicherlich, aber schon früh gab es Konflikte um die Verteilung des Raubguts.
Der rigide Puritanismus – Verzicht auf modische Kleidung, alle Varianten der Popmusik und von Spielfilmen – bezweckt, sich vom Westen abzuwenden und die offene Gesellschaft zu provozieren. Dass dazu die Propagierung von Gewalt kommt, unterscheidet diese Jugendkultur von den meisten ihrer Vorgänger. Parallelen finden sich nur bei jungen Nationalsozialisten in den 1920er und 1930er Jahren sowie in der heutigen Naziszene.
Das Barbarische ist allerdings nicht durchweg altmodisch und rückwärtsgewandt. Die Ablehnung westlicher Kulturformen hat Lücken. Man bedient sich Facebooks, des sozialen Mediums, das nicht nur aus den verhassten USA stammt, sondern von dem Juden Mark Zuckerberg aufgebaut wurde. Auch Waffen und Fahrzeuge aus japanischer, europäischer oder amerikanischer Produktion werden verwendet. Kein muslimisch geprägtes Land war bisher in der Lage, solche Produkte selbst herzustellen oder eigenständig zu entwickeln. Kameras, Handys, all die Dinge, die ohne die industrielle und technisch innovative Kreativität des Westens nicht denkbar wären, werden wie selbstverständlich benutzt. Der Glaube an die eigene Überlegenheit endet an der Steckdose.