Es ist wie in einer eigenen kleinen Stadt, oder besser, wie in einem alten Dorf, denn hier gibt es noch viele der traditionellen Gewerke. In der Da- menschneiderei liegen die Stoffe für die kommende Tanz-Produktion »Voodoo Waltz« auf den Tischen, die Hutmacherin bearbeitet die Hasenohr-Perücke für »Edward Tulane«, im Waschraum baumelt ein Engelskleid von der Decke zum Trocknen, und in der Herrenschneiderei grübelt die Ge- wandmeisterin über einem plissierten Rückenteil, damit das die richtigen Falten wirft. Britta Brodda führt uns durch die Kostümabteilung des Bo- chumer Schauspielhauses, durch karge Flure und in prächtig gefüllte Lager. Sie hat den Überblick, sie kennt jede Ecke der Werkstätten, weiß eine Menge spannender, auch absurder Geschichten zu erzählen. Und sie schätzt ihre Mitarbeitenden. »Zauberin des Schnittes« nennt sie zum Beispiel Cornelia Fischer, die Gewandmeisterin der Damenschneiderei. Und dass Hannah Brüggemann schlaflose Nächte wegen des Rücken-Plissees habe, davon kann sie auch berichten.
Britta Brodda leitet die Bochumer Kostümabteilung, seit mittlerweile 25 Jahren. Sie ist gelernte Schneiderin, wollte eigentlich Modedesign studieren, »aber dieser ganze Zirkus war nichts für mich«. Als Jugendliche näht sie nicht nur gerne, sondern geht auch gerne ins Theater – diese beiden Leidenschaften zu verbinden, war für sie der perfekte Plan. Sie macht eine Lehre als Gewandmeisterin und verbringt ihre Gesellenzeit am Theater an der Ruhr in Mülheim. Dort arbeitet sie später auch als Gewandmeisterin, baut die Kostümabteilung auf. Die elf Jahre bei Roberto Ciulli seien prägend für sie gewesen. Den Leiter des Bühnenhauses und Regisseur nennt sie ihren »Theatervater«, aber sie habe sich emanzipieren müssen. 1998 wechselt sie nach Bochum, Leander Haußmann war damals Intendant. Sie hat seitdem unter einigen Bochumer Intendanten gearbeitet, aber jetzt, mit Johan Simons, erlebe sie ihre künstlerisch wertvollste Zeit. »Alle meine Träume sind in Erfüllung gegangen«, sagt Brodda und schwärmt von einer »tiefen Theaterverbundenheit«, die sie bei jeder seiner Proben als Regisseur spüre.
Als Kostümdirektorin ist Britta Brodda auch in den Probenprozess eingebunden, sie managt quasi das Kostüm, von der ersten Idee und Skizze des Kostümbildners über die Anschaffung oder Anfertigung, die Anprobe und das Reinigen nach der Vorstellung. Material, Personal, Budget – Britta Brodda organisiert das alles und fügt es zusammen. »Kostüme sind das Wichtigste im Theater«, sagt sie, und das mit Überzeugung. »Jeder Schlüppi, jeder BH, jede Socke ist so wahnsinnig wichtig für die Schauspieler. Eine Socke darf nicht rutschen, wenn ich vor 800 Menschen spreche.«
Ein Theaterkostüm ist keine Verkleidung
Als sie gerade davon erzählt, klopft Schauspieler Risto Kübar an ihre Bürotür, blickt in den Raum, entschuldigt sich, fast erschrocken, und ist gleich wieder weg. »So ist er, so zurückhaltend und freundlich«, sagt Brodda. Sie mag ihn sehr. »Seinetwegen war ich in Estland im Urlaub.« Kübar wurde dort geboren, seit 2018 ist er im Bochumer Ensemble. Die Zusammenarbeit zwischen der Kostümdirektorin und den Schauspieler*innen ist auch eine intime, bei der Anprobe lernt sie deren Eigenarten kennen. Und sie sagt: »Je besser ein Schauspieler ist, desto mehr schätzt er das Drumherum.« Jens Harzer zum Beispiel, der stehe immer lange vor dem Spiegel, streiche über den Stoff seiner Hose. Ein Schauspieler muss sich gut fühlen in seinem Kostüm. Die erfolgreiche Kostümbildnerin Esther Walz hat mal in einem Interview gesagt: »Ich versuche also, dem Darsteller ein Kostüm zu entwerfen, das zu seiner zweiten Haut werden kann und in dem er nicht verkleidet aussieht. Das zweite ist die eigentliche Kunst.« Nicht ohne Grund also hatte sich Jens Harzer für seine Rolle als »Macbeth« eigentlich einen maßgeschneiderten Anzug gewünscht. »Aber dann wird der innerhalb von 20 Sekunden mit Blut und Mehl überschüttet, da kriegst du als Kostümdirektorin einen Herzinfarkt, der ist ja aus Wolle und nicht waschbar.« Mittel und Weg war dann, dass Harzer nur für die letzten drei Minuten und den Schlussapplaus einen hand- und maßgeschneiderten Anzug trägt und vorher in einem waschbaren spielt. Britta Brodda arbeitet lösungsorientiert, sie ist immer auch Vermittlerin und Moderatorin. Vertrauen zu schaffen zwischen den Gewerker*innen und den Künstler*innen, auch das nennt sie als ihre Aufgabe.
In Kostümabteilungen gibt es ein großes Wissen über Stoffe. »Wir lassen auch Stoffe weben«, erklärt Brodda. Natürlich, das muss sich ein Theater auch leisten können. In Bochum ist das möglich. Und die Werkstatt wird weitläufig geschätzt. Greta Goiris, die Kostümbildnerin der Bochumer Inszenierungen »Macbeth« und »Alkestis« lässt auch für andere Arbeiten gerne bei Gewandmeisterin Cornelia Fischer nähen. Goiris kommt aus der bildenden Kunst, sie arbeitet viel mit William Kentridge zusammen. »Ihre Kostüme sind Skulpturen«, sagt Brodda.
Und: »Wir dürfen hier die hohe Kunst der Schneiderei zeigen«. Es gehe um Haute Couture im Theater, nicht um industrielle Anfertigung. Das meiste wird mit der Hand genäht. Wichtig sei es, guten Stoff zu verwenden, auch im Sinne der Nachhaltigkeit. Allerdings keine Seide, denn die ist »nur für den Luxusbereich« und darf nicht gewaschen werden. Da wird’s dann wieder schwierig mit Kunstblut oder Mehl, Schweiß und Make-up-Flecken… Die Stoffe, die im Theater gelagert werden, sind Reste. »Ich bin nicht unterwegs und schaue nach Stoffen. Wir sind kein Museum«, erklärt Brodda. Obwohl man beim Blick in den Fundus und in die Schränke gelegentlich durchaus in Versuchung kommt, an Ausstellungsstücke zu denken. Da hängt zum Beispiel die körpergroße rosafarbene Schleife aus Moosgummi, die Sandra Hüller in »Hydra« trug und die Britta Brodda eigenhändig, Zentimeter für Zentimeter, für die Schauspielerin geformt und gebaut hat. Die Epochen vermischenden Kostüme aus »Baroque«, für die Kostümbildnerin Johanna Trudzinski im vergangenen Jahr den Faust-Theaterpreis bekommen hat. Oder der Gummi-Bauch für Armin Rhodes Cyrano (2011), der damals bei ihr zuhause in der Dusche hing, weil sie jede halbe Stunde eine neue Schicht Gummimilch auftragen musste. Oder die gestapelten Hüte und Mützen im Metallschrank, die Schlaglichter auf Epochen, Stile und Stimmungen werfen. Immer mal wieder wird die Kostümdirektorin von Bochumer*innen angerufen, die ihre Häuser und Wohnungen entrümpeln. Manchmal findet sie da Schätze wie eine originale Krankenschwester-Uniform aus dem Dritten Reich, die sogar noch verpackt war.
Einen Überblick über jede Bluse, jede Krawatte und jede Socke hat Fundusverwalter Guido Hußmann. Er weiß genau, wo alles liegt, kümmert sich um die Logistik, stellt die Kleider bereit, organisiert das Waschen und die Transporte. Aus dem Fundus werden zu 99,9 Prozent die Kostüme für die Proben verwendet, berichtet Brodda. Kostüme, die seltener gefragt sind, kommen ins Außenlager. Zum Beispiel historische Kostüme, Tier- und Kinderkostüme, Extra-Gebautes oder Uniformen, denn die sind »aktuell kein großes Thema in der Theaterkunst«, weiß Brodda.
Einen neuen, anderen Blick auf Stoffe lernt sie gerade mit Imre und Marne van Opstal kennen. Die beiden Choreograf*innen entwerfen auch die Kostüme für ihre Arbeit »Voodoo Waltz«. Die beiden kommen aus dem Tanz, also richten sich ihre Interessen mehr auf das Körperliche. »Da gibt es Nuancen von Längen, um die Frage, an welchen Stellen der Stoff weich fließen muss und was der Stoff in Bewegung macht.«
Wir gehen weiter, diesmal runter aus dem dritten Stock des Hauptgebäudes über den Innenhof in eine separat liegende Werkstatt. Hier arbeitet Ralf Oberste-Beulmann, Schuhmachermeister in der dritten Generation, sein Vater hat schon am Bochumer Theater gearbeitet. Er fertigt jeden Spezial-Kothurn, jede Krähenklaue und jeden Leder-Maßschuh selbst. Es gibt nicht mehr viele seiner Art, weder in den Innenstädten noch an Schauspielhäusern. Aber – und das beschreibt Brodda als einen Trend – die Theater setzen wieder mehr daran, Handwerker*innen ins Haus zu holen, möglichst viele Gewerke zu halten und Netzwerke zu bilden. So ist das Theater immer auch eine Bühne fürs Handwerk. Und für fast vergessene Berufe.
Zu »Voodoo Waltz« gibt es zahlreiche Termine im Februar und März 2024
»Macbeth« ist wieder am 3. Februar,
»Die wundersame Reise des Edward Tulane« am 18. Februar zu sehen