Nein, ein hohes Ansehen hat sie leider nicht. Auch wenn Gerhard Richters vielgerühmtes Südquerhausfenster des Kölner Doms, das 2007 eingebaut wurde, leicht zu dem Urteil führen könnte. Glasmalerei hat es schwer, obwohl zuletzt Stars wie Imi Knoebel, Sigmar Polke, Markus Lüpertz oder Neo Rauch Bilder aus und auf Glas entworfen haben. Das ist zwar richtig und erfreulich, trübt jedoch den Blick für die tatsächliche Situation: Vom Gerhard-Richter-Nimbus ist das Gros der Werke Lichtjahre entfernt. Weil hierzulande Religion scheinbar unaufhaltsam aus dem Alltagsleben verschwindet und Gottesdienste zur Nischenveranstaltung degenerieren, werden mehr und mehr Kirchen überflüssig. Fatale Konsequenz: der Abriss von Kirchen oder Kapellen, vornehmlich von solchen, die nach 1945 errichtet wurden und oftmals mit Glasmalereien geschmückt sind. Allein in NRW sind so in den vergangenen 15 Jahren rund 150 dieser Gesamtkunstwerke zerstört worden. Glück und Glas, wie leicht bricht das – durch die jüngste Entwicklung hat die Volksweisheit einen fatalen Beigeschmack erhalten.
Als Chronist, oftmals auch als Retter in der Not engagiert sich seit 30 Jahren die in Mönchengladbach ansässige Forschungsstelle Glasmalerei des 20. Jahrhundert für die gefährdete Kunst. Zunächst inventarisiert und fotografiert sie die Werke an Ort und Stelle und berücksichtigt dabei den architektonischen Zusammenhang: Nicht nur Glasgemälde in Sakralgebäuden werden erfasst, sondern auch solche in Rathäusern, Schulen, Krankenhäusern, Aussegnungshallen oder Firmensitzen. Sodann erforscht sie das Œuvre der einschlägigen Künstler*innen – diesem Zweck dient die 2016 gegründete Europäische Akademie für Glasmalerei. Schließlich sammelt und bewahrt sie Entwürfe, Kartons und Nachlässe. Im Depot finden auch jene Glasbilder Aufnahme, die durch Abbruch oder Umnutzung heimatlos geworden sind. Für sie wird eine Wiederverwendung im öffentlichen Raum gesucht, auch wenn sie meist problematisch ist, weil ortsbezogene Kunst nicht mir nichts, dir nichts anderswo platziert werden kann.
»Das jüngste Beispiel für kirchlichen Vandalismus«, berichtet Annette Jansen-Winkeln, »ist die katholische Kirche St. Paulus in Essen-Gerschede«. 1955 wurde sie eingeweiht, 2022 rollten die Bagger an. Sie machten nicht nur das Gotteshaus platt, sondern entsorgten auch das Gros der beachtlichen Glasfenster, darunter eine Fensterwand im Eingangsbereich, die der Bottroper Künstler Nikolaus Bette erst 2001 geschaffen hatte. Der »Zauber des gefrorenen Lichts« – diese schöne Formulierung prägte der Designer Wilhelm Wagenfeld für Glaskunst – blieb hier ohne Wirkung.
Wenn der Bagger schon rollt…
Kein Einzelfall, wie Annette Jansen-Winkeln weiß. Die Kunsthistorikerin, die das Zentrum für die Dokumentation und Erforschung der Glasmalerei 1993 mit ihrem Ehemann, dem Architekten Ernst Jansen-Winkeln, als private Initiative aus der Taufe gehoben hat, ist eigentlich eine diplomatische, auf Ausgleich bedachte Persönlichkeit. Doch wenn sie darüber spricht, wie desinteressiert, ja ignorant manche Gemeinden mit dem ihnen anvertrauten fragilen Kunstgut umgehen, kommt schon mal Verbitterung hoch. Verständlich. »Dass der Abriss von Kirchengebäuden, Klöstern und Krankenhauskapellen von Jahr zu Jahr zunimmt und fast zur Normalität geworden ist, muss äußerst bedenklich stimmen«, meint Annette Jansen-Winkeln. »Noch unglaublicher ist es, dass mit den Gebäuden relativ junge Kulturwerke vernichtet werden, darunter vor allem die ohnehin leicht zerbrechlichen Glasmalereien.« Immer wieder zwingen SOS-Signale zur sofortigen Intervention: »Oft ist der Bagger schon bestellt, so dass nur noch ein schnelles Handeln und der Ausbau und Transport der Fenster in das eigens dafür eingerichtete Depot nach Mönchengladbach die Fenster retten können.«
Wie kann das sein? Schließlich wurde der Denkmalbegriff in den vergangenen Jahrzehnten immens erweitert. Selbst Beton-Brutalismus und Plattenbauten genießen inzwischen vielerorts Artenschutz. Eine mögliche Erklärung: Der Glasmalerei haftet der Hautgout der »Kirchenkunst« an. Das bezieht sich nicht etwa auf die Ursprünge in der Gotik – farbige Fenster, bei denen die Konturen vor allem mittels Schwarzlot aufgetragen werden, erlebten vor allem im 13. Jahrhundert eine unvergleichliche Blüte; die transparente Farbenpracht taucht die gotischen Räume in ein mystisches Licht. Renaissance und Barock hatten für solche Effekte wenig Sinn. Die Wiedergeburt der Glasmalerei im 19. Jahrhundert stand im Zeichen der historistischen Nazarener-Kunst, die lange als unschöpferisch, bloß dekorativ oder ‚frömmelnd‘ abgelehnt wurde. Vorurteile, die bis heute nachwirken, wenn es um die Reputation der Glasmalerei geht.
Mit ihrer Arbeit verfolgt die Forschungsstelle nicht zuletzt das Ziel, dieses Image zu korrigieren. Dabei weiß sie sich im Einklang mit anderen Institutionen, die sich wissenschaftlich mit der Glasmalerei beschäftigen – erwähnt seien beispielsweise das Deutsche Glasmalerei-Museum in Linnich, das »Netzwerk Glas Museen«, in dem sich sieben Museen aus NRW zusammengeschlossen haben, traditionsreiche Glasmalerei-Werkstätten (wie Derix, Oidtmann, die Mayer’sche Hofkunstanstalt oder Gustav van Treeck) sowie das 15 europäische Länder umspannende Großprojekt des »Corpus Vitrearum Medii aevi«, das sich seit einiger Zeit auch um die Glasmalereien des 19. und 20. Jahrhunderts kümmert.
»Glasmalerei bedeutet, mit der Sonne selbst zu malen.«
Jan Thorn Prikker
Schwerlich allerdings wird man jemanden finden, der das Anliegen derart intensiv, konsequent und mit so viel Herzblut verfolgt wie Annette und Ernst Jansen-Winkeln. Dessen gleichnamiger Vater (1904-1992) gehörte seit den 1930er Jahren zu den besten Kirchenkünstlern im Rheinland. Annette Jansen-Winkeln wiederum schrieb ihre Dissertation über den Expressionisten; inspiriert wurde er wie so viele Glasmaler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Jan Thorn Prikker. Der Niederländer, von 1926 bis zu seinem Tod im Jahre 1932 Professor an den Kölner Werkschulen, trieb die Erneuerung der Technik hierzulande voran.
Geht man auf die Website der Forschungsstelle, kann man nur staunen, was hier dokumentiert, was in drei Jahrzehnten an Wissen zusammengetragen worden ist. Am Anfang stand die Absicht, sämtliche architekturbezogene Glasbilder des 20. Jahrhunderts in NRW zu erfassen. Schon das eine Herkulesaufgabe. Von Aachen bis Zülpich erstreckt sich die Dokumentation – jeder Eintrag umfasst Grundriss, Außen- und Innenansicht des Gebäudes sowie Fotos aller Glasbilder in situ. Als das Ehepaar damit 2016 fertig war, wurde der Radius auf die ehemalige preußische Rheinprovinz erweitert. Rheinland-Pfalz und das Saarland sind derzeit bevorzugtes Operationsgebiet der Forschungsstelle, außerdem die niederländische Provinz Limburg und Luxemburg.
Konrad Adenauer in der Löwengrube
Was das Renommee der Glaskünstler angeht, ist NRW (und besonders das Rheinland) allerdings kaum zu toppen. Heinrich Campendonk, Joachim Klos, Georg Meistermann, Jochem Poensgen, Ludwig Schaffrath oder Anton Wendling, sie alle setzten Maßstäbe, was das künstlerische Arbeiten mit Glas angeht. Bemerkenswert auch, dass im Ruhrgebiet 92 Prozent des Bestandes an künstlerisch gestalteten farbigen Fenstern nach 1945 entstanden ist. Annette Jansen-Winkeln: »Damit ist hier die wohl weltweit jüngste Glasmalerei-Landschaft anzutreffen.«
Stehen die religiöse Botschaft und die künstlerische Qualität der Malerei mit Licht im Vordergrund des Interesses, so verdienen Glasfenster bisweilen auch als Geschichtsdokument erhöhte Aufmerksamkeit. Ein gutes Beispiel hierfür ist die ehemalige Abteikirche St. Nikolaus und St. Medardus in Brauweiler, einem Ortsteil von Pulheim. Unter den Fenstern, die Franz Pauli 1967 entwarf, befindet sich auch eines, das Konrad Adenauer stiftete, um an seine Gefangenschaft im Gestapogefängnis Brauweiler (1944) zu erinnern. Ein Rundbogenfenster zeigt den nachmaligen Bundeskanzler als Daniel in der Löwengrube; durch eine Öffnung schaut Adolf Hitler als Personifizierung des Bösen auf Adenauer herab.
Liebenswert-kurios ist dagegen ein Glasfenster der katholischen Kirche St. Joseph in Gelsenkirchen-Schalke. Den heiligen Aloysius von Gonzaga stattete der Künstler Walter Klocke 1959 unter souveräner Hintanstellung theologischer Bedenken mit Fußballschuhen aus. Dem Patron der Jugend gab er außerdem einen blau-weißen Fußball mit – als Symbol der engen Verbundenheit des Heiligen mit der Schalker Fußball-Jugend. Derzeit dümpelt der FC Schalke O4 in der Abstiegszone der Bundesliga herum. Ob ein Stoßgebet vor dem Klocke-Fenster die Lage zum Besseren wendet?