Lange hat sich Othello nicht nur von seinem Fähnrich Jago manipulieren lassen. Auch sonst hat er alles getan, was seine Befehlshaber von ihm erwartet haben. Nur einmal hat er die unsichtbaren Grenzen, die ihm gesetzt sind, überschritten, als er heimlich Desdemona geheiratet hat, und das war nicht einmal ein Akt der Rebellion gegen die Rolle, die ihm als Schwarzen in einer von weißen Kolonialherren beherrschten Welt zugeschrieben ist. Er hat sich einfach nur von seinen Gefühlen leiten lassen, ebenso wie seine große Liebe.
Doch nun widersetzt sich der von dem südafrikanischen Schauspieler, Tänzer, Musiker und Regisseur Bongile Mantsai gespielte Offizier den Einflüsterungen seines Vertrauten Jagos. Er will nicht zum Mörder Casssios, seines Leutnants, werden. Dieser Mord und auch der an seiner Frau widersprechen allem, was Mantsais Othello denkt und fühlt. Also steigt er von der Bühne herab und geht zu einer der hinteren Saaltüren, als wollte er das Theater verlassen und so eine andere Realität schaffen. Aber das ist natürlich ein zum Scheitern verurteilter Versuch, Shakespeares Tragödie umzuschreiben. Jago, der sich bei Wolfgang Michalek eher als ein verschlagener Statthalter korrupter Verhältnisse denn als schillernder Verführer zum Bösen erweist, holt ihn mit der Aufforderung »Sag, was geschrieben steht!« ins ausweglose Geschehen zurück.
In dem Moment, in dem Bongile Mantsai, der in dieser Spielzeit eine künstlerische Residenz am Düsseldorfer Schauspielhaus hat, die Stufen in den Zuschauersaal hinabgeht, entwickelt Lara Foots Inszenierung von Shakespeares Tragödie eine bemerkenswerte Kraft. Schon ihre Setzung, den im Venedig der Renaissance angesiedelten Stoff ins frühe 20. Jahrhundert zu verlegen und Othello zum General des Wilhelminischen Militärs zu machen, der einen Aufstand der Heroro und Nama in Deutsch-Südwestafrika brutal niederschlägt, verleiht dem Stück eine besondere Aktualität.
Konfrontiert mit der deutschen Geschichte
In Foots Bearbeitung geht es nicht nur um den Sturz eines Mannes, der erst zum Spielball einer rassistischen Intrige, letztlich aber zum Opfer seiner Eifersucht wird. Durch die Verortung der Handlung in der Kolonialzeit konfrontiert die südafrikanische Regisseurin das Publikum mit der deutschen Geschichte und ihrem bis in die Gegenwart reichenden Erbe. Allerdings greift sie im ersten Teil des Abends kaum in den Stücktext ein. So entsteht ein seltsames Ungleichgewicht. Ihre moderne Setzung scheint mit einem eher altmodischen Inszenierungs- und Schauspielstil zu kollidieren.
Dieses Gegeneinander von politischem Anliegen und psychologischem Spiel geht zwar in einzelnen Szenen auf, vor allem in denen zwischen Bongile Mantsai und Pauline Kästners Desdemona, in denen eine Welt jenseits von Machtspielen und rassistischen Vorstellungen aufscheint. Aber beide können einen nicht vergessen machen, dass die Inszenierung bis zur Pause etwas richtungslos vor sich hintreibt. Das ändert sich erst in der zweiten Hälfte, als sich Othello gegen die Zuschreibungen des Textes wehrt. Wenn Mantsai die Bühne verlässt, ist es tatsächlich Othello, der einen Ausweg sucht und nicht sein Darsteller. Anders als in früheren Dekonstruktionen klassischer Theatertexte, in denen es immer die Regisseur*innen und Darsteller*innen waren, die sich aus der heutigen Perspektive gegen das Stück wenden und es kritisieren, bleibt Mantsai die ganze Zeit in seiner Rolle. Sein Othello ringt mit den Worten, die Shakespeare ihm in den Mund legt, aber bleibt der afrikanische Offizier, der im Dienst der Kolonialherren versucht, seine Identität zu bewahren. Ein aussichtsloses Unterfangen, dass seine Tragik auf eindrucksvolle Weise vergrößert.
1., 9. und 27. Oktober im Schauspielhaus