Der erste seltsame Satz fällt nach sieben Minuten: »Siehst Du irgendwo Publikum?«. Die Party ist vorbei, aber Leni Malinowski will die Rolle der Verliebten in Bezug auf Robert Demant nicht beenden. Robert ist ungehalten und genervt. Der verdeckte Ermittler in Frankfurt am Main hat Wut auf Leni – vormals Lennart, aber nun als Frau lebend und für den polizeilichen Einsatz gewissermaßen frei gestellt vom Knast. Das Paar zu spielen, das hat der schwule Robert sich anders vorgestellt. Sie sollen Kontakt zu dem großkalibrigen Drogendealer Victor Arth aufnehmen, den Leni von früher, als sie noch Lennart war, kannte, und dafür die perfekte Fassade konstruieren und präsentieren. Das gelingt auch, Leni und Robert befreunden sich mit dem Clubbetreiber Victor (Michael Sideris) und seiner Freundin Nicole (Ioana Iacob), inklusive Buddy Talk und Frauensachen bei der Kleiderkür in der Boutique. Aber Sieger sehen anders aus – Victors Name ist keine Garantie für Fortune.
Der gemeinsam zum Ziel zu führende Job bietet Anlass für Konflikte und Überreagieren. Leni ist nur ein Spielstein auf dem Schachbrett der Behörden, Leni büchst aus, Leni ist so wenig berechenbar, wie Gefühle es sind. Überdies: Das Interesse der Leni Malinowski ist nicht das Interesse der Polizei. Sind es aber die Interessen von Robert Demant?
Viel Dunkel, wenig Licht – in den Personen und in der szenischen Gestalt. Film noir und Fassbinder-Touch. Denn sind die beiden, Leni und Robert, nicht auch Nachfahren aus der Tragédie humaine des Regisseurs von Martha, Maria Braun, Petra von Kant und Veronika Voss? Vielleicht ist auch deshalb in Christoph Hochhäuslers »Bis ans Ende der Nacht« die Berührung mit dem Genie des Neuen Deutschen Films zu spüren, weil die Geschichte in Frankfurt und seinem ‚Milieu’ angesiedelt ist, wo das Sterben der Elvira Weishaupt »In einem Jahr mit 13 Monden« seinen Ort hatte und wo überdies in den fünfziger Jahren »Das Mädchen Rosemarie« Nitribitt ihren erotischen Geschäften zum Opfer fiel.
Nicht der Thriller, der wohl zum Zuge kommt und wieder aus dem Gleis geworfen wird, bildet das Herzstück des irritierenden, durch Genres irrlichternden Film. Im Zentrum steht eher die verquere Verbindung zwischen Leni und Robert und einer amour fou in ihrer gebrochenen Attraktion, dem Provozierenden geschlechtlicher Zweideutigkeit und sich selbst ungewisser Identität. Wobei man Robert ungern zum Opfer erklären würde. Trügerische Gefühle sind im Spiel und die Vorspiegelung falscher und richtiger Tatsachen und Träume.
Die Partitur der Musikauswahl mit vielen alten Schlagern und einem Kunstlied – Franz Schuberts »Die Liebe hat gelogen« auf ein Gedicht des unglückseligen August von Platen – umhüllt uns mit ebenso falschen oder schnoddrigen Seligkeiten und traurigen Wahrheiten. Heidi Brühl singt, Esther (und Abi) Ofarim unter anderem leitmotivisch vom »Schönen Mädchen«, Evelyn Künnecke, Zarah Leander, Hilde Knef: Die mehr oder minder trivialen Erwartungen und Erfüllungen, mit denen Texte und Melodien die sentimentale Mentalitätsgeschichte kostbar machen, kommentieren die filmische Erzählung und heben sie auf ein anderes Niveau.
Wer glaubt hier an das romantische Konzept Liebe? Mit den Männern ist nicht viel los, mit den Frauen auch nicht, die tough zu nennen (das Prädikat verdient die Leiterin der Ermittlung, gespielt von Rosa Enskat) das Äußerste an Kompliment wäre; es braucht die Ambivalenz und Ambiguität, um in dieser verdammt vertrackten Welt sein Glück zu machen und sich eine Zukunft zu kreieren.
Es ist – auch wegen Florian Plumeyers Buch, der Kamera (Reinhold Vorschneider) und Montage (Stefan Stabenow) und dank Timocin Ziegler und der fulminanten Thea Ehre, die den Silbernen Bären für sich selbst zu Gold gemacht hat – eine der seltsamsten, unmöglichsten Liebesgeschichten im deutschen Film seit langem (neben denen von Christian Petzold). Uneindeutig bis zum »Außer Atem« geratenden Schluss und darüber hinaus. *****
»Bis ans Ende der Nacht«, Regie: Christoph Hochhäusler, D 2023, 120 Min., Start: 22. Juni