//__Architektur und Sprache verbindet ein ins Unendliche drängender Wille nach Gestaltung. Erst baut einer Häuser. Dann Museen, Bürotürme, Paläste. Zuletzt will er ganze Städte entwerfen. Nicht nur in antiken Tempelarealen und mittelalterlichen Kathedralen verschmolzen Architektur und Weltanschauung, ebenso wollten die Baumeister der Neuzeit mit Stein und Beton auch ihre Ideologie in die Höhe stemmen: Baron Haussmann, Oscar Niemeyer, Le Corbusier. Desgleichen Piranesi, Boullée oder Speer; dass deren Kerker-, Nationalbibliotheks- und Hauptstadt-Träume Zeichnung blieben, verschafft ihnen einen Ehrenplatz im Museum des Nichtverwirklichten.
Auch die Sprache, hat sie erst einmal ihren poetischen Urzustand verlassen und sich mit der Vernunft verbunden, strebt nach grenzenloser Verfügungsgewalt. Kann alles gesagt und begriff en werden, ist ein Haus errichtet, das kein Außen mehr kennt. Insofern verbirgt sich nicht die Musik, wie Schopenhauer meinte, sondern die Sprache im Bauplan der Architektur. Was den Grund dafür angibt, warum in Babel beide gemeinsam zerstückelt wurden.
Längst ist die Warnung, die die Vernichtung jenes Turmbaus aussprach, verstummt, reizt der Mythos zu kühner Neuinterpretation: Der Turm von Babel, verkündet der Architekt Silvio Balestri, ist ganz im Gegenteil eine Aufforderung, große Gebäude nur mit großer Bedeutung zu errichten, Wolkenkratzer zumal. Der junge Italiener ist 1914 nach New York emigriert, um seine hochfliegenden Ideen Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist seine Lebensgeschichte, die Pablo De Santis in »Die sechste Laterne« referiert, mit der kühlen Distanz und zügigen Gewissheit des Historiografen, nicht mit der Beschreibungswärme des Romanschriftstellers, so als sei die ehrgeizige, zuletzt völlig scheiternde Vita Balestris ein Kapitel, das der Realgeschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts einzufügen war. Gab es Balestri? Besitzt die Romanfigur einen Schatten in der wirklichen Welt?
De Santis ist Argentinier, sichtbar hat er sich in Borges’ siebeneinhalbtem Stockwerk zwischen Phantasie und Wirklichkeit aufgehalten, und so hat er seinem Protagonisten einen frühen Freund mit Namen Oskar Pollak beigesellt, mit dem zusammen der angehende Architekt das Fundament zu seiner Weltanschauung legt. Pollak aber existierte, er war ein Freund Kafkas, der im Leben wie im Roman 1915 fällt. Da schlägt Balestri sich gerade in der werdenden Hauptstadt der Hochhäuser durch, wo zwar nicht Kafka sein Begleiter wird, aber dessen Amerika sein Schicksal: die Labyrinthe der referenzlosen Bedeutung. Nach anfänglichen Rückschlägen bekommt Balestri eine Stellung in einer der führenden Architekturbüros der bauboomenden Stadt. Arbeitet sich vom im zweiten Kellergeschoss eingesperrten Kopisten bis ins Licht der zweithöchsten Etage hinauf, in die Nähe der Direktoren, die niemand kennt. Und rückt damit Jahr um Jahr, Zug um Zug der Verwirklichung seines großen Traumes näher, dem Bau eines zweiten babylonischen Turmes, seiner »Zikkurat«. Dem größten und höchsten aller Häuser, einem Weltbau, der in seinen Gedanken bereits bis in die kleinsten Einzelheiten hinein Gestalt angenommen hat.
Bereits in seinen ersten Tagen in New York war Balestri aber in ein seltsames Haus geraten, ein Museum für nichtverwirklichte Gebäude; dessen Besitzer Caylus war sein Freund geworden. Während Balestri sich allmählich mit Vorträgen über eine Architektur der Bedeutung einen Namen, aber auch Gegner macht, ahnt er nicht, dass in Caylus’ Museum bereits Platz für seine Zikkurat geschaff en wird. Denn ein Architektengeheimbund mit Namen »Club der sechs Laternen« intrigiert gegen ihn – es sind die Wächter der Referenzlosigkeit des Bauens, die sich dem in den Weg stellen, von dem sein Autor sagt, er wolle mit der Zikkurat einen Strich unter die Avantgarde ziehen. Antiker sein als die Antike.
Der Roman gibt keinem von beiden Recht. Seine Konstruktionsform aber bezieht Stellung: Sie ist eine kristalline Versuchsanordnung aus dem Geiste Borges’ und Calvinos, eine die sowohl die Welt als (bloß) die Sprache meint; ist ein Essay über Architektur und auch ein Spiel mit den Prinzipien des Literarischen, dem die Baukunst als Metapher dient. Ihr Stil ist die Zeichnung, der klare und doch unüberschaubar komplizierte Riss. Verkleidung, Material, Gewicht, Farbe tauchen nur dann auf, wenn De Santis hin und wieder den Stift des Architekten mit dem Pinsel des Romanciers vertauscht. Bevor Balestri zu Beginn des Zweiten Weltkriegs stirbt, verliert er nach allem anderen auch die Sprache. Und wir lernen: Nur das Nichtgestaltete, Nichtverwirklichte überlebt.
Pablo de Santis, Die sechste LaterneAus dem Spanischen von Claudia Wuttke, Unionsverlag Zürich, 2007, 256 S., 19,90 €