// Der 14. Juni 2004 schien ein guter Tag zu sein für Lyor Cohen, den Nordamerika-Chef der Warner Music Group (WMG), eine der vier verbliebenen Majorplattenfirmen auf der Welt. Drei Monate lang hatte sich Cohen mit einer spektakulären Klage herumschlagen müssen, die quasi aus dem eigenen Hause kam: Maverick Records, ein Warner-Unterlabel, gegründet im April 1992 unter anderem von dem bei WMG unter Vertrag stehenden Weltstar Madonna, hatte im März 2004 die eigene Mutterfirma verklagt. Der Vorwurf lautete: Millionen Dollar seien der Tochter Maverick Records verloren gegangen durch Missmanagement und schlampige Buchführung der Konzernmutter. Die hatte darauf mit einer Gegenklage reagiert: Maverick Records selbst habe Millionen Dollar durch eigenes Verschulden verloren. Klage und Gegenklage innerhalb eines Konzerns, Madonna gegen den Musikmulti, das versprach einen spektakulären Showdown vor Gericht. Doch bevor es dazu kommen konnte, einigten sich die Streitparteien am 14. Juni 2004 außergerichtlich. Madonna wurde ausbezahlt, ihre Anteile an Maverick Records von WMG übernommen; der Vertrag des Maverick-Chefs Guy Oseary, eines Madonna-Intimus, der ihr seit Anfang der 90er Jahre auch als Manager dient, wurde hingegen um gleich mehrere Jahre verlängert. Alles schien schiedlich/friedlich geregelt, Madonna konnte sich wieder aufs Musikmachen konzentrieren, Warner aufs Geldmachen mit Musik.
Doch der 14. Juni 2004 läutete, wie sich erst viel später herausstellen sollte, eine der größten Niederlagen des Musikkonzerns WMG ein: Diese Entflechtung der Geschäftsinteressen von Madonna und WMG schuf die Voraussetzung dafür, dass die Plattenfirma ihre umsatzträchtigste Künstlerin im nächsten Jahr verlieren wird. Madonna muss noch ein Album bei Warner abliefern, dann läuft ihr regulärer Plattenvertrag ab; ihrer Verpflichtungen gegenüber Maverick Records, die sie noch an Warner gebunden hätten, entledigte sie sich durch die außergerichtliche Einigung. Dann startet sie mal wieder eine Revolution. Diesmal wird es, wie früher, keine musika- lische oder Image-Revolution mehr sein, sondern ihre zweite Business-Revolution: Madonna ist dann der erste aktive Superstar ohne normalen Plattenvertrag.
Den ersten Zeitenwechsel brachte das Geschäftsmodell Maverick Records, das für Madonna miterfunden worden war und bei vielen anderen Popstars vergleichbarer Zugkraft von Majorplattenfirmen angewandt wurde: Um Superstars an ihre Plattenfirma zu binden oder zumindest ihre Laune damit zu heben, dass man ihnen ein hübsches Spielzeug schenkte, gründeten Musikkonzerne Tochterlabels. Die wurden unter die kreative Kontrolle der Stars gestellt, mitunter wurden sie wie im Fall Madonna auch finanziell beteiligt in einer Art Joint-Venture- Konstruktion. Maverick Records war dabei eines der wenigen wirklich erfolgreichen, so dass Madonna für WMG im Laufe der 90er Jahre nicht nur mit ihrer eigenen Musik eine Cashcow geworden ist.
Für beide Seiten eigentlich das perfekte Business, bis eben 2004 die Trennung kam, durch die WMG zum alleinigen Besitzer von Maverick Records und gleichsam zum Herrn im eigenen Haus wurde. Endlich, aus Cohens Sicht, denn die Reibungsverluste zwischen der Tochterfirma und der Konzernmutter waren über die Jahre offenkundig erheblich gewesen. Das Geschäftsmodell mit Superstar-Sublabels war zumindest im Fall Madonna für WMG gescheitert. Für den Popstar wiederum war der Verkauf ihrer Maverick-Anteile an WMG womöglich zunächst nur ein gutes Geschäft, der ihr außerdem noch Ärger vom Hals schaffte. Vielleicht war es aber noch ganz anders; vielleicht ahnte die vorausschauende Business-Frau bereits, wohin die Entwicklung der immer weiter schwächelnden Musikbranche gehen wür- de. Hatte Madonna, die als Popikone und Superstar längst auserzählt ist, 2004 sogar schon einen Plan gefasst?
Am 16. Oktober 2007 jedenfalls startete sie ihre zweite Business-Revolution. Da unterzeichnete Madonna einen Deal, der die WMG und deren noch heute amtierenden Nordamerika-Chef Cohen bis auf die Knochen blamierte und die Musikbranche in ihren Grundfesten erschütterte. Eingefädelt hat den völlig neuartigen Vertrag allem Anschein nach ausgerechnet Guy Oseary. Der Madonna-Manager, Taufpate ihres Sohnes Rocco, musste dafür theoretisch nur aus seinem Maverick-Büro in Los Angeles treten, das absurderweise seit 2004 voll und ganz von WMG bezahlt wurde – und ein Stockwerk höher steigen. Dort residiert die Firma Live Nation, der weltweit größte Tour- und Konzertveranstalter.
Wenn es nach Michael Rapino, dem Chef von Live Nation geht, wird seine Firma in Zukunft nicht nur immer mehr Konzerte in immer mehr eigenen Hallen veranstalten – Live Nation ist schon heute der mächtigste Arenenbesitzer in den USA, und man kauft weltweit weiter zu. Live Nation soll bald schon Plattenmultis wie die Warner Music Group, Universal oder Sony überflüssig machen. Rapinos Konzernstrategie läuft auf einen Epochenbruch hinaus – das Ende der Musikindustrie, wie wir sie kennen.
360-Grad-Vermarktung, so lautet Rapinos Zauberwort, soll das Geschäftsmodell der Zukunft für Popstars sein: Live Nation bietet ihnen die totale musikalische Vermarktungs- und Dienstleistungskette an, zu der nicht nur das heute für Superstars hochprofitable Tourneegeschäft gehört, sondern auch alles andere, womit sich aus Musik bestenfalls Geld machen lässt – Merchandising, Internetaktivitäten, Fanclubs, DVDs, Musikfernsehen und, auch das, die Musik selbst. Die wird heutzutage nicht notwendigerweise mehr auf physischen Tonträgern wie CDs vertrieben, sondern immer häufiger übers Internet als Download, doch für beide Darreichungsformen waren bislang Plattenfirmen zuständig. Madonna ist nun der erste Superstar, der sich vom traditionellen Plattenvertrag verabschiedet und bei Live Nation einen 360-Grad-Deal unterschrieb hat, auf zehn Jahre, dotiert mit der Fabelsumme von 120 Millionen Dollar. Am 16. Oktober 2007 verlor die Plattenfirma Warner Music Group also nicht nur ihre berühmteste Künstlerin, deren WMG-Kontrakt ohnehin auslief und neu verhandelt hätte werden müssen; am 16. Oktober 2007 begann die vielleicht entscheidende Schlacht um die Zukunft der Musikindustrie, und Madonna stand als Revolutionärin mal wieder ganz vorn an den Barrikaden.
Jedes Kind weiß mittlerweile, dass seit etwa einem Jahrzehnt immer weniger CDs gekauft werden; schuld daran sind ja vor allem die jungen Leute selbst mit ihren illegalen Downloads aus dem Internet. Ähnlich bekannt ist mittlerweile auch die Tatsache, dass im Live-Geschäft mit Musik etwa im gleichen Zeitraum immer mehr Geld verdient wurde. In der Musikindustrie, die traditionell aufgeteilt war in Plattenfirmen einerseits und Tournee- und Konzertveran- stalter andererseits, verschoben sich so die Umsätze weg vom Tonträger, hin zum Live-Erlebnis. Entsprechend mehr Musikveranstaltungen gibt es heute in absoluter Zahl. Erstaunlich ist dabei die Preisentwicklung bei den Eintrittskarten, da hat sich mittlerweile eine für die zahlenden Zuschauer kaum mehr nachvollziehbare Spreizung entwickelt: Während das durchschnittliche Konzertticket für eine durchschnittliche Band in einer durchschnittlich großen Halle heute ähnlich viel oder sogar weniger kostet als vor zehn Jahren – der Preisdruck ergibt sich aus dem gestiegenen Angebot –, verlangen Superstars zum Teil irrsinnige Ticketpreise. Doch die werden bezahlt, 60 Euro für ein Hallenkonzert in fünf- bis zehntausend Menschen fassenden Arenen sind heute normal, und bei Open-Air-Veranstaltungen in Fußballstadien gibt es anscheinend keine Grenzen mehr nach oben: Der billigste Platz bei Madonnas Düsseldorfer Konzert kostet 82,75 Euro, Karten für die erste Kategorie kosten bis zu 195,25 Euro – nicht mehr verfügbar hingegen sind für die LTU Arena VIP-Pakete, die bis annähernd 500 Euro teuer waren. Pro Karte.
Auch bei der Preisexplosion war Madonna in den letzten Jahren führend, zusammen mit U2 und den Rolling Stones; und auch da half ihr die Verbindung zum Konzertmulti Live Nation. Denn auch die vorletzte Revolution in der Musikindustrie, diejenige vor dem 360-Grad-Mo-dell, hat Live Nation wenn nicht angezettelt, so doch zum lohnenden Geschäftsmodell für Superstars perfektioniert: Großacts veranstalten heute ihre Tourneen faktisch auf eigenes, allerdings überschaubares Risiko. Während weltumspannende Tourneen früher logistisch und ver- traglich hochkomplexe Angelegenheiten waren, organisiert Live Nation mittlerweile als Dienstleister komplette Konzertweltreisen. Live Nation ist also eine Art Superstar-Reiseveranstalter, gebucht wird sozusagen all inclusive. Dabei gilt für die meisten Superstar-Tourneen das Top-Down-Prinzip: Sie lassen durchführen und veranstalten, behalten die volle Kontrolle und tragen zumindest nominell die nötigen Vorabkosten – dafür streichen sie auch fast alle Umsätze ein.
Das 360-Grad-Modell, das der Live-Nation-Boss Michael Rapino erfunden hat, ist insofern nur die logische Konsequenz aus dieser Entwicklung: Wenn das Live-Geschäft der einträglichste Teil des Musikbusiness ist, und wenn eine einzige Firma wie Live Nation diesen Geschäftszweig schon zentral steuern kann – warum nicht gleich alle musikalischen Aktivitäten inklusive zukünftiger aufgenommener Musik bei dieser Firma ansiedeln? Dass dieses Geschäftsmodell nicht mit Unbekannten funktioniert, dass also irgendjemand die Talente auch vorher entdecken und groß rausbringen muss, wie es bislang die Plattenindustrie tat und noch tut, versteht sich von selbst. Kritiker des 360-Grad-Modells nennen die bisherigen Live-Nation-Deals deshalb gern »Rentenverträge für Superstars«. Madonna tangiert das nicht. Nachdem sie ihren Vertrag mit Live Nation unterschrieben hatte, sagte sie: »Die Paradigmen im Musikbusiness haben sich verschoben, und als Künstlerin und Geschäftsfrau muss ich ihnen folgen. Das erste Mal in meiner Karriere sind die Wege, auf denen meine Musik die Fans erreicht, grenzenlos geworden. Ich wollte nie in Grenzen denken, und in dieser neuen Partnerschaft sind die Möglichkeiten endlos. Wer weiß schon, wie meine Alben in Zukunft vertrieben werden? Das ist das Aufregende an diesem Deal – alles ist möglich.«
Nach 25 Jahren im Musikgeschäft, so scheint es, hat sich Madonna immer noch die Lust an Revolutionen bewahrt. Künstlerische, das hört man dem Wegwerf-R&B auf ihrem aktuellen Album »Hard Candy« an, werden es eher keine mehr werden. Das ist uninspiriert gemachte Teenagermusik, exekutiert von den teuersten Produzenten der Welt, Timbaland und Pharrell Williams – im Gegensatz zur früheren Madonna, die stets mit jungen, unbekannten Produzenten daran arbeitete, dem Mainstream-Sound zumindest ein Sekündchen voraus zu sein, ist das musikalisch voll auf Nummer sicher. Wenn man Madonna hingegen für eine besonders geschickte Marktstrategin hielte, könnte man die Musik auf »Hard Candy« aber auch als ästhetische Zukunftsinvestition verstehen, passend zu ihrem neuen 360-Grad-Vertrag bei Live Nation, als bloßes Werbematerial für Madonnas Konzerte, nicht als eigentliches Produkt. Denn um ihre angestammten Fans muss Madonna nicht kämpfen, die zahlen gern Fantasiepreise für Konzerte, bei denen sie ohnehin nur die alten Lieder hören wollen; die brauchen diese neue Platte und überhaupt keine neue Musik mehr. Also, könnte man meinen, konzentriert sich Madonna mit ihrer musikalischen PR ganz auf die nachwachsenden Fan-Generationen, sozusagen auf die demoskopischen Zukunftsmärkte der 9- bis 19-Jährigen: Eine prima als Klingelton verramschbare Kinder-R&B-Nummer wie die schreiblöde Single »4 Minutes« gewinnt dann noch dadurch an Attraktivität bei Minderjährigen, dass der weltweit größte Teenie-Star Justin Timberlake darin als Gastsänger auftritt. Diese Strategie wäre vergleichbar der von Supermärkten, die an den Kassen die Süßigkeiten gern besonders tief hängen: Die Kleinen anfüttern, und die Großen zahlen lassen.
Vielleicht aber ist auch alles anders. Vielleicht fällt der gerade 50 gewordenen Madonna, die mit der Erhaltung ihres Körpers und ihrer aktuellen Ehe in letzter Zeit anscheinend mehr als genug beschäftigt ist, auch einfach keine originelle, neue Musik mehr ein. Könnte natürlich auch sein. Wäre aber nicht so spannend. Es wäre schade. //
Am 4. Sept. 2008 in der LTU-Arena, Düsseldorf