TEXT: ANDREAS WILINK
Der Regisseur und der Film, die das Wesen Isabelle Hupperts (bzw. ihre öffentliche Erscheinung) am besten erfassen, sind François Ozon und sein musikalischer Thriller »Acht Frauen«, der zugleich Hommage an die Diven des französischen Kinos ist. In der Familiengeschichte erfährt Tante Augustine, die Film-Schwester von Catherine Deneuve, eine Metamorphose: von der Raupe zum Schmetterling, vom bebrillten, hausbackenen, altjüngferlichen Entlein zum Schwan, glamourös und mondän. Wiederholt Huppert mit der Verwandlung der Figur nicht ihre eigene Entwicklung und Karriere, die 1972 begann mit einem kleinen Auftritt in Claude Sautets schwerelosem »César und Rosalie« mit dem Star Romy Schneider in einer ihrer schönsten, gelöstesten Rollen?
Fünf Jahre später war Huppert die Friseuse Beatrice in Claude Gorettas »Spitzenklöpplerin«, unscheinbar, schüchtern und schamhaft, wehrlos und duldsam, vom Leben links gelassen und einverstanden mit ihrem Geschick: »Er ist an ihr vorbeigegangen, ohne sie wahrzunehmen. Denn sie war eine von denen, die sich nicht bemerkbar machen, die erforscht werden wollen, bei denen man genau hinschauen muss. Früher hätte ein Maler sie in einem Genrebild verewigt, als Wäscherin, Wasserträgerin oder Spitzenklöpplerin«, heißt das Schluss-Zitat des Films. Man könnte auch mit Rilke sagen: Sie »war nicht kostbar und war niemals selten«. Eine Rebellion geschieht als lautlose Implosion.
Danach nimmt Isabelle Huppert, am 16. März 1952 in großbürgerlichen Pariser Verhältnissen geboren und ausgebildet am Conservatoire national supérieur d’art dramatique, ihr Schicksal selbst in die Hand. Sie kann ein Luder sein, trotzig wie in »Der Loulou«, abschätzig, frivol und süffisant, ein »Biest«, wie bei Chabrol, das – unmenschlich heiter – Rache nimmt an der sich so offen gebenden besseren Gesellschaft. Als äußerlich brave »Violette Nozière« tötet sie mit Gift ihren Vater. Es war ihre erste Arbeit mit Chabrol, der sie u.a. noch als Emma Bovary an ihren falschen Träumen zugrunde und in »Eine Frauensache« als Engelmacherin Marie Latour ungerührt ans Werk gehen lässt. Indes wird sie von nun an selbst als Opfer nicht mehr passiv sein, sondern dominant noch im Dulden. Fragil, aber stabil.
Waren das Zeiten, als eine Bette Davis Komödien spielen konnte und zugleich den Teufel im Leib haben durfte. Isabelle Huppert blieb kaum Raum für das Genre Komödie, ab und an für die Satire und Farce, wie in »I Heart Huckabees« oder in Ursula Meiers »Home«. Auf der Bühne aber tut sie es – bravourös.
DIORISSIMA
Bei den Ruhrfestspielen wird sie in Luc Bondys Inszenierung von Marivaux’ »Les Fausses Confidences« vom Pariser Théâtre Odéon gastieren. Man sähe, schwärmte die FAZ nach der Premiere, eine »sagenhafte Traumfrau. Das heißt: eine Frau aus einem Traum, der ihr als das zufällt, was andere ›Leben‹ nennen, sie (und Bondy) aber ›Sehnsucht‹«. Die Madame Araminte der Isabelle Huppert ist in den »Falschen Vertraulichkeiten« unterwegs auf den Flügeln seidiger Träume. Eine femme du monde, verschwenderisch, luxuriös, Diorissima. Ihre Champagner-Arien sind von perlender Geläufigkeit, ihr Leichtsinn flirrt. Um die junge Witwe schwärmt ein Heiratskandidat, der sich einschleusen lässt und sie mit Finten und Finesse umhüllt: der Filou Dorante (der hinreißende, wuschelköpfige Ideal-Franzose Louis Garrel) wird für sie ein kapitaler Irrtum sein, der sie das Vermögen kostet, aber vielleicht das Herz beglückt. Die erotischen Duette schürfen vom oberflächlich betrachteten ökonomischen Betrugsfall in die wie feine Silberadern schimmernden Schichten des Seelischen. Die Aufführung hat Raffinement und Delikatesse, als würde sich Bondys Regie-Kennerlust mit der Kunst der filmischen Frauen-Bescheidwisser George Cukor und Ernst Lubitsch mischen, um das Ideal für den Seelen-Chemiker Marivaux zu erreichen. Dessen sublime Reaktionstests auf der Theater-Bühne ähneln Mozarts Opern. Amour fou. Liebestollheiten. Zwei Gefühls-Artisten zwischen Himmel und Hölle. Ein Seiltanz ohne Netz. Bodenlos.
Isabelle Huppert zitiert gern Diderots Essay »Paradoxe sur le Comédien«, worin er das Mechanische des Spielens für notwendig erklärt und den Widerspruch von äußerster Sensibilität und Einfühlung und krasser Kälte begründet findet. Frankreichs, ja wohl Europas größte Schauspielerin ihrer Generation, die auf andere Weise, aber ebenso distanziert wirkt wie ihre ältere Kollegin Deneuve, sagt von sich, sei spiele »nie besonders kontrolliert«. Es seien die Filme und deren Inszenierungen, die den Eindruck entstehen ließen. Zwei ihrer wichtigen Regisseure, Chabrol und Michael Haneke, sind selbst Meister im Abstand-Wahren und geradezu aggressiv in der Aufforderung an uns Zuschauer, das eigene Schauen zu befragen. Sie werfen einen kalten Blick auf ihre Geschöpfe und deren Bewegung in der Welt, einer grausamen, gewalttätigen Welt. Der Flaubert-Stil.
Am ehesten würde sie sich mit den großen japanischen Schauspielerinnen vergleichen wollen, »die ein Gleichgewicht zwischen Identifikation und Distanz bewahren«. So vollzieht sich ein stetes Wechselspiel von Hingabe und Rückzug. Natürlich musste sie mit Robert Wilson arbeiten: Sie war die Marquise de Merteuil in Heiner Müllers »Quartett« und darin gewissermaßen die französisch-amerikanische Antwort auf Marianne Hoppe in der Rolle der exquisiten feudalen Bestie; und war Virginia Woolfs Orlando – hellwach, frisch wie Tau und im Schutzmantel kristalliner Ironie.
Nie hat man das Gefühl, diese Hirn-Schauspielerin – klein, extrem dünn und vermutlich sehr kompliziert – wüsste nicht, was sie tut. Man muss nicht um sie fürchten, man kann sich vor ihr fürchten. Eine gefährliche Frau. Unnahbar. Undurchschaubar. Unerbittlich. Nicht locker lassend. Von überlegener Gelassenheit und zarter Robustheit. Gegen Selbstzerstörungskräfte scheint sie immun. Isabelle Huppert kann unterscheiden zwischen Leinwand, Bühne und Leben. Es will einem vorkommen, das Leben würde sie ein wenig langweilen, als sei sie müde der Erwartungen, die man an sie stellt, und der Bilder, die der Zuschauer sich selbst von ihr gemacht hat, um in ihnen letztlich mehr befangen zu sein, als sie es ist. Ihr kann die Idol-Bildung herzlich schnuppe sein. Nur das, was sie sich erspielt, interessiere sie. Womöglich wirken da Erfahrungen mit einer vieljährigen Psychoanalyse hinein. Nicht introvertiert, vielmehr introspektiv spielt sie. Konzentriert, reflektiert und unerklärt. Sie bewege sich, sagt sie, in dem, was sie tue, auf einer »inneren Expedition«, an deren Ende man womöglich den anderen erreichen könne.
Ihr Gesicht ist wie eine leere, neutrale Leinwand. Und sei, findet sie, »irgendwie nicht definiert, habe keinen hohen Wiederkennungswert«. Anders als das wilde Löwinnen-Antlitz der Jeanne Moreau, das Ewig-Sinnliche der Bardot, Isabelle Adjanis erotische Offensive, die marmorne Klassik der Deneuve, die am Schmerz gehärtete Weichheit von Romy Schneider. Und doch: »Egal, was das Thema eines Films ist, es ist Isabelles Gesicht, das zum Filmthema wird«, befand Chabrol. Die blasse zarte Haut, das rote Haar, der schmale Mund, Augen, die das Beobachtet-Werden ihrer Person mit größerer Energie aktiv beobachtend beantworten. Selbstbewusst sagt sie: »Für mich war mein Aussehen nie Grund genug, unglücklich zu sein.«
Ihre künstlerische Intelligenz kombiniert Instinkt mit Beseeltheit. Isabelle Huppert spielt nie sentimental. Vermutlich ist sie es auch nicht. Man erlebt eine nüchterne Ekstase, Sehnsucht nach dem Absoluten, den alchemistischen Vorgang, um eine Essenz zu destillieren. So scheint ihr Spiel die letzte Instanz. Darüber geht es nicht. Es gibt keinen Widerspruch mehr.
»Ich bin Ich, und die Figur kommt wie ein Unfall«, hat sie 2003 im Gespräch mit der Zeit dekretiert. Was für ein Satz! Die Rolle erlangt nicht Herrschaft über sie. Ihr Lieblingsmusiker ist der nie Effekt und Verführung provozierende Alfred Brendel, ihre liebste Schriftstellerin die diskrete, leiseste »Vor-Empfindungen« sondierende Nathalie Sarraute. Spezialistin des Schmerzes und Virtuosin der Verhüllung, zerreißt es die Huppert in ihren Rollen zwischen dem Impuls zur Freiheit und zu unbändigem Willen und einer fast mythischen Hemmnis, Beklemmung und Beschädigung, die sozial oder psychologisch zu fixieren, zu klein gedacht wäre. »Weil ich die bin, die ich bin, weil ich dieses und jenes auf eine Person projiziere, habe ich vielleicht immer die Neigung, aus den Personen diese Problematik des Eingeschlossen-Seins und der Freiheit herauszuholen«, vertraute sie 2013 einem FAS-Interview an.
Das Kino sei für sie »wie eine imaginäre Autobiografie«. Autobiografie in etwa 80 Filmen aus vier Jahrzehnten. Bleibende Bilder: die irrlichternde, nervös fahrige »Frau« in Bachmanns / Jelineks / Werner Schroeters »Malina«, die durch lodernde Kulissen und ein halluziniertes Wien läuft und an den Männern und ihrem weiblichen Ich vergeht. »Die Klavierspielerin« Erika Kohut von Jelinek / Haneke, eine prüde wohlerzogene höhere Tochter, die sich die Scham mit der Rasierklinge ritzt, obszönes Verlangen artikuliert, in einer Peepshow an einem mit Sperma vollgesogenen Papiertuch schnüffelt, einer Schülerin Glassplitter in die Manteltasche steckt, und den jungen verwöhnten Walter Klemmer begehrt, weshalb sie sich verachtet und ihn hasst – sie spielt, wie der Wanderer in Schuberts »Winterreise« singt, von Gott und Menschen verlassen. Die »Gabrielle« nach Joseph Conrad in Patrice Chéreaus sublim artifiziell verfilmtem Kammerspiel, dessen Morbidezza an den späten Visconti erinnert. In dem unlösbaren Ehedrama verharrt sie wie eine antike Statue: »geheimnisvoll, voll verborgener Bedeutung wie ein Symbol«, wie es im Text heißt.
Diese Schauspielkünstlerin hat ihre »Regie-Väter« inspiriert, Fantasien zuzulassen und verbotene Träume zu träumen. Sie erkannten in ihr in produktiver Auseinandersetzung die gleichberechtigte Partnerin. Nicht Muse, nicht Material, kein Objekt, sondern handelndes, erkenntnisorientiertes Subjekt. Spöttisch zitiert sie Jacques Lacan, wonach Schauspielerin zu sein, meine, den Vater zu verführen. Insofern wäre sie unser aller Tochter.
Aufführungen: 30. und 31. Mai, 1. Juni 2014, Festspielhaus. www.ruhrfestspiele.de