Wir sind fast schon am Ende unseres Gesprächs, haben uns beinahe schon verabschiedet, da sprudelt es noch mal aus ihnen heraus: »Wisst ihr noch, die Flashmob-Übung in der Taschenabteilung im Kaufhof?« Da sollten sie sich auf den Boden legen und Sätze sagen wie: »Hier fühle ich mich wohl. Ich wollte nur mal kurz die Perspektive wechseln.« Oder ihr Massenauflauf in der Thier-Galerie. »Gewimmel, Gerempel, Geschiebe, Gemauschel«, riefen sie gemeinsam und lautstark von einer Empore, »die Stadt gehört uns. Gehört euch«. Während Christoph Jöde auf der anderen Seite des Geländers stand und den Takt vorgab, bis er vom Sicherheitsdienst abgeführt wurde. Und die anderen? Die riefen weiter. Manche grinsten leicht, andere schauten ernst, hoben die Faust. Nicht beirren lassen, hieß schließlich ihre Aufgabe. Sich in ungewöhnliche Situationen begeben und sich etwas trauen – das war ihre Vorbereitung auf die Inszenierung »Kaspar Hauser und die Sprachlosen von Devil County« (2015) und für viele Produktionen mehr. Und die Chormitglieder erinnern sich strahlend daran.
Seit 2011 gibt es den Dortmunder Sprechchor. 100 Bürgerinnen und Bürger sind dabei, zur wöchentlichen Probe erscheinen regelmäßig 70 Frauen und Männer zwischen 20 und 95 Jahren. Angefangen hat alles 2010, im Jahr der Kulturhauptstadt, mit einem Aufruf des Dortmunder Theaters für einen »Chor der Kreativen«, gerichtet an Kulturschaffende der städtischen und freien Szene. Dieser Chor eröffnete damals, zum Finale des Kulturhauptstadtjahres, das »Dortmunder U« mit dem Text »Dortmund – 76 Meter über Normalnull«, ein Text zur »Zukunft und Kultur in Dortmund«. Für die Dramaturgen Alexander Kerlin, Thorsten Bihegue und Schauspieler Christoph Jöde, der den Chor dirigierte, war schnell klar, dass das Projekt so gut ist, dass es weiterlaufen musste.
Aus dem einmaligen Projekt »Chor der Kreativen« wurde in der Intendanz von Kay Voges dauerhaft der Sprechchor Dortmund, der bis heute – auch unter Intendantin Julia Wissert – wertschätzend und verbindlich als 17. Ensemblemitglied im Theater bezeichnet wird – richtig wäre heute eigentlich 14. Ensemblemitglied, aber sie belassen es gerne beim 17., aus Gewohnheit. »Mit dem Sprechchor habe ich in Dortmund ein wichtiges Ensemblemitglied übernommen«, sagt Wissert. »Je nachdem, ob er in der großen Gruppe oder in kleineren Ensembles auftritt, ist der Sprechchor extrem wandelbar. Und ich schätze den Chor als Gesprächspartner für ehrliches Feedback sehr.« 2016 bekam der Sprechchor sogar den Publikumspreis in der Kategorie beliebteste*r Schauspieler*in, der jedes Jahr im Auftrag der Schauspielfreunde verliehen wird.
Von Atemtechnik bis Jodelkurs
Heike Lorenz hatte damals das Video auf YouTube gesehen, wie der Sprechchor in der Thier-Galerie »den zivilen Ungehorsam« probte, und sich »unsterblich in den Chor verliebt«. Seither ist die 64-jährige Sozialpädagogin und Personalmanagerin dabei. Der Chor hatte sich schnell für alle Professionen geöffnet. Katrin Osbelt und Regine Anacker sind Chormitglieder der ersten Stunde. Ihr »Erweckungserlebnis«, wie sie es selbst nennen, war die Inszenierung »Antigone« von Sophokles in der Spielzeit 2011/2012, Regie führte damals Charlotte Zilm. Als Chor thebanischer Bürger saßen sie zunächst im Publikum versteckt, bis sie losbrüllten. Es war die erste Repertoire-Inszenierung, bei der der Chor mit auf der Bühne stand. Viele weitere folgten, auch eigene abendfüllende Stücke wie »Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete« (2013), ein Kultstück am Dortmunder Theater, jede Vorstellung ausverkauft.
Alle Mitglieder des Chors arbeiten ehrenamtlich. »Wir bekommen Lohn auf anderen Ebenen«, sagen sie. Ihr Sprech-, Körper- und Rhythmustraining, das Lesen einer Chorpartitur. »Neue Erlebensformen«, wie es Heike Lorenz beschreibt. Ein Miteinander lernen, sich gegenseitig spüren. Denn das alles ist Voraussetzung für chorisches Sprechen, bei dem es auf dasselbe Tempo und auf jedes deutliche »t« am Ende eines Wortes oder das stimmlose »ch« ankommt. Dafür wird der Chor professionell geschult, in Stimmführung, Atemtechnik und Aussprache.
Wer einmal eine Chor-Inszenierung im Sprechtheater gesehen und gehört hat, weiß, welche Kraft solch ein »Kollektiv-Individuum« haben kann. In der Antike war der Chor politischer Kommentator des Bühnengeschehens, er repräsentierte die bürgerliche Stadtgesellschaft. In Zeiten der Guckkastenbühne war der Chor lange verschwunden. Aber in den vergangenen Jahrzehnten hat er wieder an Bedeutung gewonnen. Bei Regisseur Volker Lösch wüten regelmäßig Laienchöre, die er in Stücke des bürgerlichen Bildungskanons integriert oder für die er eigene Stücke verfasst. Wie in »Stadt der Arbeit«, das er zusammen mit dem Autor Ulf Schmidt für das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier schrieb. Im Protest-Epilog skandiert da der Chor der Vollzeit-Ehrenamtler*innen, der Rentner*innen und Wegrationalisierten: »Der Reichtum der Zukunft sind wir. Wenn ihr uns nicht in Armut haltet.« Löschs Chöre sind sein dringlicher Gegenwartsbezug, seine lautstarke Auseinandersetzung mit sozialen Fragen der Gesellschaft. Die polnische Regisseurin Marta Górnicka lässt ihre Stücke komplett von Chören aus Schauspielprofis und -laien sprechen, singen, schreien, flüstern. Jede Sprach- und Lautverschiebung wird da zu einer Verschiebung der Bedeutung.
In Dortmund arbeitet der Sprechchor mit wechselnden Regisseur*innen oder Chorleitungen und wird auch angefragt von anderen Häusern und freien Produktionen. »Das Tolle ist, dass das ganze fast ohne bürokratischen Aufwand funktioniert: Kein behäbiger Apparat steht dahinter, sondern ein einziger Emailverteiler und 100 Menschen, die zuverlässig, leidenschaftlich und gleichberechtigt arbeiten, über Wochen, Monate, Jahre. Meines Wissens ist dieses Konstrukt einzigartig in Deutschland«. Das schrieb Alexander Kerlin im Abschluss-Buch der Voges-Intendanz. Kerlin betreute den Sprechchor von 2011 bis 2019. Er hatte zuvor als Student an der Bochumer Ruhr-Universität mit dem ehemaligen Chorleiter Einar Schleefs gearbeitet, dem wohl wichtigsten Chor-Theatermacher des 20. Jahrhunderts, und dann als Dramaturg am Dortmunder Schauspiel das Projekt Sprechchor gestartet.
»Das Schöne am Chor ist, dass das Kollektive und Einzelne sich in ihm vereinigen: Beim Sprechchor stehen die Vielen auf der Bühne, doch jede*r von ihnen bleibt einzigartig.«
Alexander Kerlin
Diese individuellen Vielen gestalten Sprache, machen sie neu hörbar. Am Vorabend unseres Gesprächs hatten die Chormitglieder ihre erste Probe nach der Sommerpause und mit einem neuen Chorleiter. Kemal Dinç ist Musiker und Komponist. Mit ihm starteten sie Gesangstraining. »Das ist eine neue Dimension«, sagt Katrin Osbelt. Welche Stimmung erzeugen wir, wenn wir von der Tonart Dur in Moll wechseln? Um solche Fragen gehe es jetzt. Musikalisch, technisch, die Haltung betreffend – jede Chorleitung setzt neue, andere Schwerpunkte. Der Chor ist offen und freut sich über neue Impulse. »Wir wollen uns weiterentwickeln, wir nehmen alles mit«, sagt Regine Anacker. Sie hätten auch schon gejodelt. Erst mit einer professionellen Jodlerin beim Workshop im Dortmunder dott.werk, dann weiter beim privaten Jodel-Kränzchen. Sie sind zusammengewachsen, die Teilnehmer*innen des Sprechchors, haben neue Freundschaften geschlossen, besuchen gemeinsam andere Theater und Festivals.
Sie müssen aufeinander hören, synchron sprechen, und zwar jede einzelne Silbe. Improvisieren gibt’s da nicht. Peter Jacob fällt vor allem das richtige Pausen-Setzen schwer: »Es ist so anders als mein alltäglicher Rhythmus«. Jacob hatte in seinem beruflichen Alltag wenig mit kunstvoller Sprache zu tun. Er ist Naturwissenschaftler. Aber er ist auch derjenige, der Texte aus den Aufführungen für Premierenpartys dichtet. Zum 90. Geburtstag ihrer ältesten Chorkollegin haben sie ihr 90 Karten geschrieben.
Hedda Zeitler fürchtete vor allem das Auswendiglernen, als sie damals den Aufruf für den Chor in der Zeitung gelesen hatte. »Aber das geht«, sagt sie heute, immer noch ein wenig verwundert. Und sicher nicht minder stolz. »Wir investieren viel Zeit, Herzblut und Energie«, berichtet Heike Lorenz. Für die Endprobenwoche vor einer Premiere nehmen sich viele extra Urlaub. Sie kommen aus Dortmund, Witten, Unna und sogar aus Düsseldorf. »Konzentration und Entspannung gleichermaßen«, so beschreibt Katrin Osbelt die Chorarbeit.
Wie befruchtend die gemeinsame Arbeit sein kann, zeigt ihre aktuelle Produktion »Halbwache Geister«. Den Text hat Chormitglied Regine Anacker geschrieben, es ist das erste Theaterstück der Texterin und Lektorin. Aus einem »Vermissungserlebnis« heraus sei der Text entstanden, mitten in der Pandemie, als sich der Chor allenfalls online treffen konnte. Es ist ein Stück über Demenz, eine Collage aus Erlebnissen, literarischen Zitaten und Liedern, von Beginn an für einen Chor geschrieben. Da sitzt der Chor in Rollstühlen oder gestützt auf Rollatoren, flüstert, raunt und ruft – »Hunger, Hitze, Kälte, Schmerz, Angst« –, immer gegen das Vergessen an. Bewegend ist das, wenn ein professioneller Apparat, Engagement, Leidenschaft, Können und diese unermüdliche Begeisterung auf der Bühne zusammenkommen.
»Halbwache Geister«
Vorstellungen: 1. und 15. Oktober, 16. November
Schauspiel Dortmund