TEXT: KATJA BEHRENS
Bilder sind – kein Zweifel – ein wichtiges Informationsmedium, und selbst zufällig entstandene Schnappschüsse bilden mitunter historische Momente ab. Ihre Interpretation und Indienstnahme ist inzwischen manchmal selbst Teil der Geschichte geworden. Elliott Erwitt, der eigentlich für die Firma Westinghouse zur Industriemesse nach Moskau gereist war, um deren Kühlschränke zu fotografieren, ist mit seinem Nixon-Chruschtschow-Bild fraglos ein Dokument der Zeitgeschichte gelungen. Das Foto zeigt den damaligen amerikanischen Vizepräsidenten Richard Nixon, wie er seinem offenbar gänzlich unbeeindruckten Gegenüber Nikita Chruschtschow, dem sowjetischen Staats- und Parteichef, während der sogenannten »Küchengespräche« den ausgestreckten Zeigefinger in die Brust stößt. Das Bild wurde schon bald nach seiner Veröffentlichung 1959 als ein Symbol für den Kalten Krieg begriffen. Aber damit nicht genug. Im Jahr darauf deuten es Nixons Wahlkampf-Strategen in ein Zeugnis für den furchtlosen Standpunkt des Kandidaten gegenüber dem Kommunismus um und verwenden es in Wahlkampagnen – ohne den Fotografen Erwitt um sein Einverständnis zu fragen und ohne die Rechte für eine weitere Veröffentlichung zu erwerben.
Elliott Erwitt, 1928 als Elio Romano Ervitz in Paris geboren, lebte in Italien und Frankreich, bevor er mit seinen Eltern in die USA emigriert. 1941 zieht die Familie von New York nach Los Angeles, wo der junge Elliott seine Liebe zur Fotografie entdeckt. Walker Evans und Henri Cartier-Bresson werden seine Vorbilder. Nachdem er mit einer alten Plattenkamera zu fotografieren beginnt, findet er bald einen Job in einem Fotolabor, kauft sich von seinem Lohn eine handlichere Rolleiflex und beginnt eine Fotografieausbildung am Los Angeles City College. Als er 1948 nach New York geht, setzt er seine Studien in der Filmklasse an der New School for Social Research fort. Hier auch, in New York, lernt er drei der seinerzeit wichtigsten Fotografen kennen. Edward Steichen, seit zwei Jahren Direktor des Department of Photography am Museum of Modern Art, Robert Capa, Mitbegründer der Fotoagentur Magnum, und Roy Stryker, der Fotografen für die Farm Security Administration und ihr großes Fotoprojekt zur Dokumentation des armen, ländlichen Amerika auswählt und ihnen auch Aufträge von Firmen besorgt. So kommt Erwitt bald nicht bloß zu einem einträglichen Job bei der »Standard Oil Company«, für deren neu eingerichtetes Firmenarchiv er die Stadt Pittsburgh im Bild erfassen soll, sondern er knüpft Kontakte, die für sein zukünftiges Fotografenleben entscheidend sein sollen. Aber erst einmal reist er nach Frankreich und Italien.
Wieder zurück in New York, wird Elliott auf Capas Einladung hin 1953 Mitglied der Agentur Magnum, arbeitet freischaffend für Magazine wie Collier’s, Look, Life, Holiday und andere Blätter. In den goldenen Jahren der Printmedien reißen sich die Fotoillustrierten geradezu um die Arbeiten der Reportagefotografen. Elliott fotografiert mehrfach Marilyn Monroe (»She was good. Sensitive«) und Fidel Castro (»very sympathetic«), dokumentiert die Kennedy-Ära im Weißen Haus und 1957 den Sputnikstart. Seine 1950 entstandene Fotografie der nach Hautfarbe getrennt aufgestellten Trinkbrunnen in North Carolina (»white«, und daneben, kleiner und rostig, »coloured«) wird zu einer Ikone der US-Bürgerrechtsbewegung.
Landschaften, Eisenbahnlinien und Straßen (»Wyoming, USA« 1954), Strandbilder und Stadtansichten, das Empire State Building im weichzeichnenden Nebel (»New York«), Brautpaare (»Bratsk, Sibiria«, 1967) und Nudisten, das sich gleich küssende Liebespaar im Außenspiegel eines Autos (»California, USA«, 1955) und die Frau hinterm Kürbisregal (»Managua, Nicaragua«, 1957) – die Fotografien Elliott Erwitts haben alle das Potential, in Erinnerung zu bleiben. Sie sind nicht immer politisch, aber meist sind sie humorvoll, ohne Häme, mit Empathie.
Händen widmet er eine ganze Serie: Da falten sie sich, halten und stützen, gestikulieren, spielen und zeigen, sie ragen halb aus dem Sand oder hängen schlapp als Gummihandschuhe zum Trocknen an der Leine. In seinen Museumsbildern beobachtet er Menschen dabei, wie sie Bilder oder Sehenswürdigkeiten betrachten. Die schwarz-weißen Fotos mit den Besuchern vor zwei weißen Bildern in einer New Yorker Galerie oder dem schiefen Turm von Pisa entstehen in den späten 1940er Jahren; fast 50 Jahre später, 1995, fotografiert er im Prado in Madrid Besucher vor Goyas zwei »Maja«-Versionen (Museo del Prado, Madrid 1995).
Erwitt mag nicht so bissig sein wie Diane Arbus, leichtherziger als Robert Frank und vielleicht auch weniger berührt als Lee Friedlander. Seine Bilder aber sprechen die Sprache der Street Photography, die seine Zeitgenossen berühmt gemacht hat. Jener dokumentarische Stil, der in den Reportagen gepflegt wurde: ungeschminkte Tatsachen, keine Inszenierung, Motive, die erst einmal als Motive erkannt sein wollen. Die beiden maskierten Kinder in Paris (»Paris, France«, 1949) ebenso wie die ältere Lady vor dem Spielautomaten, der wie ein Cowboy aussieht (»Las Vegas«, 1954), sind wunderbare Beispiele dieser Art. Der kleine schwarze Junge, der sich eine Spielzeugpistole an die Schläfe hält und breit grinst (»Pittsburgh, Pennsylvania«, 1950), erinnert an eine von Diane Arbus’ Fotografien von 1962, auf der ein (weißer) Junge im New Yorker Central Park eine Spiel-Handgranate in den verkrampften Händen hält. Maskerade in den Straßen, Kinderspiel und Nudistencamps sind offenbar beliebte Motive der Street Photography.
1955 war Erwitt von Edward Steichen eingeladen worden, an dessen legendärer Ausstellung »The Family of Man« mit drei Fotos teilzunehmen. Unter anderem wurde das Bild seiner ersten Frau Lucienne mit der sechs Tage alten Tochter Ellen und dem Kater Brutus gezeigt. Ist hier schon das Faible des Fotografen zu erkennen, nicht nur Momente im Leben der Menschen einzufangen, sondern ebenso Tiere und deren Verhältnis zu den Menschen? Er selbst sah das Bild eher als einen gelungenen Schnappschuss an, hatte zu der Zeit aber bereits seine ersten Hundefotos veröffentlicht: eine Auftragsserie für das New York Times Sunday Magazine über Damenschuhe. Erwitt hatte sich entschieden, die Serie aus der Perspektive eines Hundes zu knipsen, denn Hunde sähen schließlich mehr Schuhe als irgendjemand sonst. Das war eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen, denn für viele Jahre wird er nun die vierbeinigen Freunde auf Augenhöhe betrachten und ins Bild stellen. »Felix, Gladys and Rover« (1974) zeigt die Beine einer Dänischen Dogge, einer Frau in Stiefeln und einen Chihuahua. Es sind Bilder wie dieses, für die Elliott Erwitt heute bekannt ist und geliebt wird. Wunderbare, humorvolle Bilder, aber eigentlich ist es ein bisschen schade, dass darüber die anderen Motive in den Hintergrund treten.
Erwitt hat über 30 Fotobücher publiziert (acht allein zu seinem Lieblingsmotiv: Hunde), hat zahllose Dokumentarfilme gedreht und Ausstellungen in den großen Museen und Sammlungen auf der ganzen Welt ausgerichtet. In den späten 1960er Jahren wurde er Präsident der Fotoagentur Magnum und ist ihr bis heute verbunden, wenngleich der 83-jährige Fotograf selbstverständlich nicht mehr so viele Reportagen und Werbekampagnen macht wie in den frühen Jahren. Manchmal ist die Ausbeute eines ganzen Tages ein einziges Bild. »Aber vielleicht ist es ein wirklich gelungenes.« Ohnehin seien ihm die richtig guten Bilder meist wie ein Geschenk zugefallen. Sie gelängen ihm, so erzählt der Fotograf, der sich in erster Linie als Handwerker versteht, weil er die Kamera auf seinen Streifzügen durch die Welt immer dabei hat und in den richtigen, den »glücklichen« Momenten schnell genug reagiert. Und, so muss man wohl hinzufügen, weil er ein Gespür hat für die absurden, komischen, tragischen oder schönen Momente des Alltags. Und für deren Poesie.
Ludwig Galerie Schloss Oberhausen, 8. Mai bis 11. Sept. 2011. Booklet zur Ausstellung 4 €. Tel.: 0208/412 49 28. www.ludwiggalerie.de