Münsters oberster Rock-Händler sitzt hinter zwei angestaubten Monitoren und einer Sektflasche, wie ein Hedgefonds-Manager des Punk, der gerade auf die richtigen Kurse gesetzt hat. Es ist kalt in seinem Büro, Christian Weinrich mag das. Früher arbeitete er unterm Dach, »da wurde es unfassbar heiß im Sommer.« Jetzt sitzt er im Erdgeschoss einer ehemaligen Tischlerei. Ab und zu bröckeln die Wände – dafür ist es kühl, es gibt eine Menge Platz, und die Miete ist günstig. In seinem Büro hat Weinrich zwei alte Rennräder geparkt, soviel Münster-Klischee muss sein. Ansonsten dominieren Plattenregale und gerahmte Band-Poster das Bild. Der Doppelmonitor ist ihm ein bisschen peinlich. Soll niemand sagen, er sei jetzt unter die Bosse gegangen. Die zwei Bildschirme helfen beim Verschieben von Tabellen und Dokumenten. Es ist der unglamouröse Teil seiner Arbeit als Einkäufer.
Nebenan befindet sich das Lager von »Green Hell«. Der Plattenversand ist eine Institution, deutschlandweit. Mehr als 20 Jahre existiert er inzwischen, seine Konkurrenz hat er zum Großteil überlebt. Anfangs verkauften die Gründer, Frank Kestenus und Burkhard Jünger, ihre Platten aus einem Keller am Fischmarkt, heute verfügen sie über ein turnhallengroßes Lager in einem Vorort von Münster. Wo früher Tische und Stühle gefertigt wurden, stehen nun lange Regalreihen mit Schallplatten, CDs, T-Shirts und anderem Merchandise. Vier Mitarbeiter sind an diesem Nachmittag damit beschäftigt, Musik einzuräumen, Etiketten zu drucken und Pakete zu verschicken. Weinrich verwaltet einen Großteil der Waren, die hier ein- und ausgehen. Die genaue Zahl der Platten kennt auch er nicht. 15.000 dürfen es mindestens sein, Vinyl allein.
Es passt, dass Deutschlands wichtigster Punk- und Hardcore-Versand in diese Räume gezogen ist. In den Zeiten von MP3, Spotify und Amazon mutet das Plattenverkaufen fast schon nostalgisch an. Vinyl-Händler sind in mancher Hinsicht wie Tischler – respektiert für eine irgendwie archaische Arbeit, mit der man nicht gerade reich wird. So zumindest das Klischee. Anders als viele Konkurrenten, hat sich Green Hell einigermaßen gehalten in den Turbulenzen der letzten Jahre. Das hat auch mit einer hohen Glaubwürdigkeit zu tun.
Neben dem Versand betreiben Weinrich & Co. einen Plattenladen im Zentrum von Münster. Für eine ganze Generation von Musikern war er ein Magnet. Das bestätigt auch die Band Messer, Münsters derzeit heißester Pop-Export. »Früher war das ein richtiges Erlebnis, da wurde ein Kasten Bier ins Auto gepackt, und dann ging es vom Dorf zu Green Hell«, erzählte Bassist Pogo McCartney neulich dem Musikmagazin Spex. Seine Band hat bei »This Charming Man« unterschrieben, Weinrichs Ein-Mann-Label, das er von seiner Kapitänsbrücke mit den zwei Monitoren lenkt – neben den Plattenströmen von Green Hell.
TCM wurde vor drei Jahren gegründet. Weinrichs Green-Hell-Partner steuerten Geld bei, ansonsten halten sie sich aus dem Geschäft zurück. Warum tun sie sich das an in Zeiten, in denen Indie-Labels so zukunftssicher sind wie Schlecker-Filialen? »Ich war ein bisschen gelangweilt«, gibt Weinrich zu. Er hat lange in einer Band gespielt, hatte Kontakt zu anderen Labels. Irgendwann wollte er wissen, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen. Und wie es sein könnte, den Job besser zu machen.
Für ein »Nebenprojekt« ist This Charming Man ziemlich erfolgreich. Wer etwas erfahren will über Musik aus Münster, kommt an dem Label zurzeit nicht vorbei. Neben Messer betreut Weinrich noch andere erfolgreiche Bands, darunter Lokalgewächse wie Long Distance Calling oder Dramamine, aber auch überregionale Acts wie Die Nerven. Fast alle Platten kommen in liebevollen, oft limitierten, Vinyl-Editionen heraus. Manche davon haben sich zu regelrechten Hits entwickelt. Das selbstbetitelte Album der Stuttgarter Stoner-Rocker Kadaver etwa geht inzwischen in die zehnte Pressung. Die ersten 10.000 Platten sind bereits ausverkauft.
Mit solchen Erfolgen finanziert Weinrich auch exotischere Projekte – vom retrolastigen Spandexhosen-Rock der Band Space Chaser bis hin zu Fjørt aus Aachen, deren Sound in die selbsterklärende Sparte »Screamo« fällt. Zusammen mit dem »intellektuelleren« Sound von Messer oder Die Nerven ergibt das ein ziemlich buntes Bild. Dabei steckt hinter dem eklektischen Katalog keine Philosophie. »Die Musik muss mir einfach gefallen«, sagt Weinrich. Eigentlich macht er nur um elektronische Klänge einen Bogen. Das gilt auch für Green Hell. Vielleicht würde das zu sehr an der Markenidentität kratzen – vielleicht haben die Betreiber auch keine große Lust auf Elektronisches.
Nicht, dass alles beim Alten geblieben wäre. Veränderungen kann man z.B. im hauseigenen Plattenladen beobachten. Green Hell, der Shop, ist mehrfach umgezogen. Inzwischen liegt er sehr zentral, in der Nähe der Münster-Promenade. War das Angebot früher weitgehend auf härtere Rocktöne beschränkt, so hat sich der Laden inzwischen auch Indie und gehobenem Pop geöffnet. An diesem Nachmittag geht ein Album von Lana del Rey über den Tresen, ohne dass der langhaarige Verkäufer mit der Wimper zuckt. Nick Hornbys bornierte Plattenverkäufer aus »High Fidelity« haben ausgedient. Oder es gab sie nie in dieser Stadt.
Tatsächlich wirkt die Münsteraner Musikszene entspannter als die manch anderer Städte. Das liegt wohl auch an einer gewissen Bodenständigkeit. Nirgendwo kann man das so gut überprüfen wie im »Gleis 22«. Die Institution am Bahnhof gehört zum Jugendinformations- und -bildungszentrum (Jib) der Stadt. Sie fasst zwar nur 300 Gäste, ist aber so bekannt, dass Google die »22« ergänzt, wenn man nur das Wort »Gleis« eingibt. In einer Leserumfrage der Musikzeitschrift Intro wurde der Club jüngst zum drittbesten in Deutschland gewählt, nach dem weltberühmten Berghain in Berlin und dem auch nicht gerade unbekannten Molotow in Hamburg.
Was die Taktung angeht, kann das »Gleis« mit fast allen Musikbühnen in Deutschland mithalten. 90 bis 100 Konzerte finden hier im Jahr statt – und das trotz zweimonatiger Pause im Sommer. Seit 1987 läuft hier Live-Musik. Seitdem hat der Laden ein Großaufgebot von internationalen Bands gesehen, darunter spätere Weltstars wie Interpol, Maximo Park oder Evan Dando. Manche Künstler sind eigentlich schon zu ›groß‹ für dieses Jugendzentrum, kommen aber trotzdem. Woran liegt das?
»Wir kochen selbst, das schätzen die Bands«, sagt Mitarbeiter David Möllmann. Es könnte ein Scherz sein, aber Möllmann, ein freundlicher Hüne mit Bart, verzieht keine Miene. Im Gleis 22 koordiniert er die verschiedenen Freiwilligenteams. Mit sieben Jahren Berufserfahrung gehört er zu den ›Neulingen‹ im Team. Programmchef Frank Dietrich ist seit 20 Jahren dabei, ebenso wie Heinz Paschert, der Gesamtleiter im Gleis. Die stabilen Kontakte zahlen sich aus. Viele Bands gastieren schon zum x-ten Mal an diesem Ort, die familiäre Betreuung schätzen manche so sehr, dass sie hier Sonderveranstaltungen abhalten. So feierte die Band Kettcar hier ihr zehnjähriges Bestehen – und nicht im heimatlichen Hamburg. »Das war eines der großen Highlights«, erinnert sich Möllmann. Die Münsteraner Band Muff Potter widmete ihrer musikalischen Heimat sogar eine eigene Hommage, den Song »22 Gleise später«.
Ein Jahr im Leben eines Clubs sind zehn Jahre in der Außenwelt – wenn diese Nightlife-Binse stimmt, dann hat das Gleis 22 lange durchgehalten. Im Gegensatz zum vergleichbaren Molotow in Hamburg ist seine Zukunft nicht gefährdet, der Stadt Münster sei dank. Sie finanziert die Einrichtung. Dabei geht es auch um die Nachhaltigkeit der lokalen Musikszene. Im Keller des Gebäudes befindet sich ein Proberaum, dessen Nutzung rührende 2,50 Euro in der Stunde kostet. Hinzu kommt ein Studio für professionelle Aufnahmen. Beide Räume werden intensiv genutzt. Zum Jib gehört außerdem das engagierte »muensterbandnetz«. Wie man Videos dreht, Werbung betreibt und Aufnahmen finanziert, erfahren junge Musiker in seiner »Bandsprechstunde«, die tatsächlich so heißt.
Es mangelt nicht an Interessenten. Mit 50.000 Studenten und 30.000 Schülern (bei 291.000 Einwohnern) ist Münster eine enorm junge Stadt mit entsprechendem Band-Potenzial. Als Sprungbrett dient eine Vielzahl von Clubs mit Konzertbühnen. Ein Teil davon konzentriert sich im Hawerkamp, einem Künstlerviertel am Binnenhafen, das so gar nicht zum properen Image der Stadt passen will. Mit seinen Graffiti-besprühten Backsteingebäuden, Brennesselkolonien und Gebrauchtwagenhallen erinnert die Gegend eher an eine alte Schimanski-Kulisse. Den alternativen Anspruch der hier ansässigen Clubs spiegeln schon ihre Namen wider: »Favela«, »Conny Kramer« oder »Sputnik«. Das Gerücht, der Hawerkamp werde irgendwann abgerissen, gehört schon fast zur Imagepflege des Ortes.
So günstig die Bedingungen für Bands auch scheinen, die Auftrittsmöglichkeiten reichen noch immer nicht aus. 20 bis 30 Anfragen erhält allein das Gleis 22 täglich, Agenturanrufe nicht miteingerechnet, erzählt Heinz Paschert. Der Leiter des Jugendzentrums sitzt auf einem alten Ledersofa im berühmtesten Bereich seines Clubs, den gleichzeitig die wenigsten in der Realität gesehen haben. Es ist der Backstage-Raum. Neben Paschert haben Möllmann und Volontärin Stina Rieke Platz genommen, mehr Personen passen kaum rein in diesen Raum. Die zehn Quadratmeter neben der Bühne sind so etwas wie das dreidimensionale Gästebuch des Clubs. An den Wänden haben sich Hunderte von Bands verewigt – mit Unterschriften, Logos und Cartoons.
Bei allem Erfolg der Bandförderung im Gleis 22 – es gibt einen Teil des Hauses, der noch populärer ist als Proberaum, Bühne oder Studio. Es ist die Fahrradwerkstatt. Miete: 2,50 Euro pro Stunde …
www.greenhell.de + www.gleis22.de + www.muensterbandnetz.de