Ein berühmtes Foto von 1946: Max Ernst und Dorothea Tanning posieren auf der monumentalen Plastik »Capricorn« (»Steinbock«). Der Maler und Bildhauer steht hinter dem gehörnten, thronenden Tier, nur sein Kopf ist sichtbar. Seine spätere Ehefrau, die Künstlerin Dorothea Tanning, sitzt vor ihm auf dem zu einer Bank geformten Tierkörper, den Kopf zurückgelehnt auf das Hals-Podest, die Augen geschlossen. Der Arm des Fabelwesens, dessen Hand ein Zepter hält, könnte im Fotoarrangement der verlängerte Arm des Künstlers sein. Neben dem Steinbock eine hohe schmale weibliche Figur auf einem Sockel sitzend, halb Mensch, halb Fisch. Max Ernst hat diese Plastik 1946 in seinem damaligen Wohnsitz Sedona, Arizona, aus Zement gebaut und später einmal als »My family« bezeichnet. 1948 hat er »Capricorn« für den Bronzeguss überarbeitet. Ein umfassendes Werk, in dem sich viele plastische Merkmale und Motive – Alltagsgegenstände als Kompositionsmittel – des Gesamtwerkes wiederfinden: Das Zepter ist aus übereinandergesetzten Milchflaschen aufgebaut, für den geschwungenen Hals und Unterleib der sitzenden weiblichen Figur nahm Max Ernst Autofedern und umkleidete sie mit Zement.
»Capricorn« empfängt nun den Besucher im neuen Max Ernst-Museum in Brühl, ist eines der Hauptwerke der Sammlung und, im »Tanzsaal« aufgestellt, Blickfang in der großen Ausstellung zur Museums-Eröffnung am 4. September. Schenkungen und Dauerleihgaben in dem um- und neugebauten klassizistischen Benediktusheim von 1844 (zur Architektur siehe K.WEST 3.2005) machen das Max Ernst Museum zu »einem der schönsten Museen in Deutschland«, so der Max Ernst-Spezialist und Kurator der Eröffnungsausstellung, Werner Spies.
Mit der Schenkung der Sammlung Peter Schneppenheim (durch die Kreissparkasse Köln) besitzt das Museum jetzt fast das gesamte grafische Werk Max Ernsts, angefangen von den frühen Linolschnitten von 1911/12 bis zu den späten Lithografien der 70er Jahre. Mit Einzelblättern, Mappenwerken, Büchern, Illustrationen dokumentiert diese Kollektion alle Techniken, in denen der große Surrealist arbeitete. Der Radierzyklus »Maximiliana«, eine Hommage aus Geheimschriften, Texten und Figuren an den vergessenen Astronomen und Lithografen Tempel, der im 19. Jahrhundert Kometen berechnete und neue Planeten entdeckte, ist ein frühes Geschenk des Künstlers selbst an seine Heimatstadt.
With a little help der Sparkasse wiederum sind drei Wandgemälde aus dem Haus des Dichter-Freundes Paul Eluard und die »weltweit umfassendste Skulpturensammlung« (Spies) nach Brühl gelangt: 60 plastische Arbeiten aus fast allen Schaffensperioden von Max Ernst, sein »Haustheater«, mit dem er sich umgab, Dokumente der phantastischen Welt des Künstlers, gebaut aus allerlei Fundstücken, etwa aus Abgüssen von Blumentöpfen, die, übereinander gestapelt, wundersame Bronze-Figuren ergeben und auf »Capricorn« verweisen. Und vielfach inspiriert sind von außereuropäischer, vor allem indianischer Kunst. Wenn er mit seiner Malerei in eine Sackgasse komme, so Max Ernst, bleibe immer noch die Skulptur: »Bei der Skulptur spielen beide Hände eine Rolle, wie bei der Liebe.«
Ein besonderes Ensemble, in diesem Jahr der Witwe des Künstlers abgekauft: die »D-Paintings« – 36 Bilder, die Ernst für Dorothea Tanning gemalt hat, jedes Jahr zum Geburtstag eines. Die fotografische Sammlung mit rund 700 Bilddokumenten (und einem Familienalbum) von namhaften Fotografen wie Man Ray, Lee Miller oder Irving Penn, 1991 zum 100. Geburtstag des Künstlers in Brühl angelegt, sowie die städtische Sammlung mit weiteren Originalen, Grafiken, illustrierten Büchern und Skulpturen, ergänzen den Museumsbestand. Zur Eröffnungsausstellung haben Privatsammler und Museen aus aller Welt (z.B. das Centre Pompidou in Paris oder die Nationalgalerie Berlin) wichtige Werke nach Brühl ausgeliehen. Diese Leihgaben sind für Werner Spies »Botschaften, die dafür sorgen, dass in diesem Haus immer hochkarätige Werke ausgestellt werden können.«
Max Ernst: Capricorn, 1948. Foto: Museum
Die Eröffnungsausstellung ist von Spies chronologisch »mit pädagogischen Aspekten« aufgebaut worden. »Mit der Chronologie steht und fällt diese Ausstellung«, sagt er im Gespräch. Nur mit »einer gewissen Kausalität, aus dem eigenen Widerspruch und der inneren Logik heraus« könne man ein so komplexes Werk verständlich vorführen. »Die Verneinung der Geschichte«, die »die Kette der Kausalität zerstört« (und die zur Zeit in vielen Museen z.B. mit thematischen Hängungen nur noch auf Effekte setzt), ist seine Sache nicht. Das Museum bleibt für Werner Spies ein Ort des ästhetischen Vergnügens und der Bildung.
In Brühl, das sein Max Ernst-Museum nun endlich (nach einigen Querelen) eröffnen darf, war Max Ernst am 2. April 1891 geboren worden. Der Vater war Taubstummenlehrer (die Gebärdensprache ist in manchen Werken des Sohnes zu entdecken) und »Maler von ganzem Herzen« (Ernst). Von früh an, so schreibt der Künstler in seinen biografischen Notizen (mit dem Untertitel »Wahrheitsgewebe und Lügengewebe«), war ihm das Wort »Pflicht« verhasst. »Allein der Ton des Wortes ›Pflicht‹ hat mir immer Schrecken und Abscheu eingeflößt.« Dagegen habe ihn das, was die Theologieprofessoren die drei ›Quellen des Bösen‹ nannten, unwiderstehlich angezogen: Augenlust, Fleischeslust und Hoffahrt des Lebens. »Unter ihnen herrschte die Lust zu sehen vor. Sehen war meine erste und liebste Beschäftigung.« Er begann ein Jura-Studium in Bonn. Und er malte. (Diese frühen realistisch-impressionistischen Arbeiten gehören zum Museumsbestand). Die berühmte Kölner Sonderbund-Ausstellung 1912, Ausstellungen des Künstlerkreises »Blauer Reiter« und damaliger Futuristen, die Begegnung mit dem »Jungen Rheinland«, die Freundschaft mit August Macke, die Bekanntschaft (und lebenslange Freundschaft) mit Hans Arp, mit dem Dichter Apollinaire und dem Maler Delaunay – Stationen auf dem Weg eines Autodidakten, der nie eine Kunsthochschule besucht hat, zum eigenen künstlerischen Stil.
Dann brach der Erste Weltkrieg aus: »Die große Schweinerei – vier Monate Kaserne in Köln-Niehl und dann hinaus in die Scheiße.« (Max Ernst) Später schrieb er: »Max Ernst starb am 1. August 1914. Er erlebte seine Wiederauferstehung am 11.11.1918 als ein Mann, der hoffte, ein Magier zu werden und die Mythen seiner Zeit zu finden.« Für diese Suche brach er sein Studium ab und begann, wie viele junge Künstler, eine adäquate Antwort zu finden auf die Erlebnisse und Erschütterungen des Krieges: die Geburtstunde des Dadaismus, einer Kunst, die komplett mit der traditionellen bürgerlichen Ästhetik brach. Die das Publikum attackierte und provozierte mit Sarkasmus, Spott und Gelächter. Dada begann 1916 in Zürich mit ersten Happenings und literarischen Aktionen. In Berlin nahmen Künstler wie George Grosz, Hannah Höch und John Heartfield die »Kunst als Waffe« für eine politisch ausgerichtete, polemische, satirisch-groteske Kunst. Für kurze Zeit wurde Köln (von 1919 bis 1921) mit Max Ernst, Hans Arp und Johannes Baargeld die dritte Dada-Hochburg. »Unser Eifer erstrebte den totalen Umsturz. Ein ebenso fürchterlicher wie törichter Krieg hatte uns um fünf Jahre unseres Lebens betrogen. Wir waren dabei gewesen, wie all das, was man uns als recht, schön und wahr gepriesen hatte, in einen Abgrund von Lächerlichkeit und Schande stürzte. Meine Werke in dieser Zeit sollten nicht gefallen, sondern aufheulen machen«, beschrieb Max Ernst später die Situation nach dem Ersten Weltkrieg. Und: »Unsere Empörung musste sich irgendwie Luft machen. Dies geschah ganz natürlich mit Angriffen auf die Grundlagen der Zivilisation, die diesen Krieg herbeigeführt hatte – Angriffen auf die Sprache, Syntax, Logik, Literatur, Malerei und so weiter.«
So entstanden die ersten Collagen, Arbeiten, »die das direkte Zeichnen und Malen durch ein komplexes System des Zitierens und Montierens ersetzen. Montieren und Zerschneiden entsprechen eher der Erfahrung mit der Zerstörungs- und Todesmaschinerie, der Max Ernst und seine Freunde soeben entkommen waren«, so Werner Spies. Ob fotografisches oder grafisches Material, wie Kunst-Reproduktionen des 19. Jahrhunderts, das Max Ernst zerschnitt und zu neuen ironischen Darstellungen einer entfremdeten Welt zusammensetzte: alle diese frühen dadaistischen Arbeiten, auch die Assemblages aus Alltagsresten wie Draht, Garnrollen, Holzstücken, Töpfen, ließen schon damals einen eigenen Stil erkennen, der nicht nur, oft sehr witzig, auf vordergründigen Schock zielte, sondern mit dem »Funken Poesie« (Max Ernst) später zu metaphysischen Traum- und Gegenwelten führte. Viele der frühen Dada-Arbeiten sind verlorengegangen. Doch manches lässt sich in Katalogen, Büchern, Zeitschriften und Zeitungsartikeln nachlesen – auch in Brühl.
Max Ernst verließ Deutschland 1922 und ging nach Paris, mit gutem Rüstzeug im Gepäck: in Köln hatte er die Frottage entdeckt, die er zufällig fand, als er die Maserung eines Holzfußbodens durch Reiben mit dem Bleistift auf einen Papierbogen übertrug und als Ausgangspunkt für seine visionären Welten nahm (später waren es auch Mauern, Holzbalken, Stoffstrukturen). Er hatte Sigmund Freuds »Traumdeutung« gelesen und »war so prädestiniert, Dada zu einem anderen, neuen, romantischen System auszubauen, zu entdecken, dass man mit Zerstörung etwas Neues aufbauen kann.« (Spies) Er führt das Zerschneiden von Wirklichkeit, »die systematische Ausbeutung von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich ungeeigneten Ebene« (Max Ernst) weiter, fertigt Collage-Romane, spielt mit der Frottage und der Grattage (Durchreiben und Abkratzen von Farbe) auf Zeichnungen und Bildern. Max Ernst wurde in Paris, wo er zwanzig Jahre lebte, einer der wichtigsten Vertreter des Surrealismus.
Aus dieser Zeit sind in Brühl einige großartige Leihgaben zu sehen – Beispiele eines vielschichtigen und vieldeutigen Surrealismus, »Entdeckungsfahrten ins Unbewusste« (Ernst), in innere Welten. 1928 schrieb er: »Blumen treten auf. Muschelblumen, Federblumen, Kristallblumen, Medusenblumen. Alle Freunde verwandeln sich in Blumen. Alle Blumen verwandeln sich in Vögel, alle Vögel in Berge, alle Berge in Sterne. Jeder Stern wird ein Haus, jedes Haus eine Stadt.« So zeigt »La ville entière« (»Die ganze Stadt«) eine menschenleere, verlassene, terrassenförmig angelegte Stadt auf einem Hügel, im Vordergrund wild wuchernde Pflanzen – magisch, surreal.
»L’élue du mal« (»Die Erwählte des Bösen«) ist ein Beispiel aus der Reihe der Vogelbilder: ein schwebender Vogel, ein Albtraumgebilde, Angst machend sein aufgerissener Schlund mit weißen, spitzen Zähnen. Eine Notiz von 1927: »Von einer auf meinem Tisch gefundenen Schnur provozierte Vision« könnte zu »Une nuit d’amour«, »Eine Nacht der Liebe« (1927) geführt haben. Max Ernst variierte die Frottage, indem er Schnüre in Farbe tauchte und dann auf die Leinwand fallen ließ. Aus diesem so entstandenen Liniengewirr entwickelte er die Komposition eines Vogels und eines Stieres, Symbole für die beiden Geschlechter.
1941 verließ Max Ernst Europa und ging nach Amerika ins Exil. Die Ehe mit der Kunstsammlerin Peggy Guggenheim zerbrach schnell. Mit seiner vierten Ehefrau, Dorothea Tanning, lebte er in New York und in Arizona, bevor er 1953 mit ihr wieder zurückging nach Frankreich. Die 36 »D-Paintings«, meist kleinformatige Kostbarkeiten, sind eine Fundgrube für Entdeckungen: Auf jedem Bild ist der Buchstabe »D« eingebaut, mal offensichtlich, mal versteckt, mal konstruktiv, mal geschnörkelt und verspielt, als dreidimensionales Objekt oder mit weißer Kreide geschrieben. Immer hineingesetzt in surreale Tag- und Nachtlandschaften mit Sonne oder Mond, in Räume oder Fensterausblicke. Hier offenbart sich der ganze Erfindungsreichtum Max Ernsts mit seinen verschiedenen Techniken und Themen, seinem gesamten malerischen Vokabular, seinen Brüchen im Werk, seinem »System des Verwertens von Bestehendem«. Das ist für Werner Spies »die eigentliche Modernität« von Max Ernst: »Alles ist additiv zusammengebaut, alles komponiert aus bestehenden Dingen.« Das gelte für sein gesamtes Werk, die Collagen, die Bilder, die Skulpturen und die Texte.
Spies hat den Maler, Zeichner und Bildhauer, Schriftsteller und Grafiker Max Ernst 1966 kennen gelernt. »Er war ein Mann voller Freundlichkeit, Heiterkeit, vor allem auch Respekt vor dem anderen, mutig und unabhängig, ein Mann, der nicht nach Ruhm schielte, der nie bereit gewesen wäre, eine offizielle Rolle zu übernehmen.« Das sei der Unterschied zu den meisten Künstlern heute: die Giganten der Kunst des 20. Jahrhunderts wie Picasso, Matisse, Ernst, Beckmann seien unabhängige Geister gewesen, die sich nicht von Sammlern, Museen oder gar staatlichen Organismen hätten beeinflussen lassen. Für Spies ist das neue Max Ernst-Museum in Brühl in seiner Schlichtheit ein Abbild des Künstlers: »Hell, luzid, abgründig, voller tiefer Innenräume – ein Juwel.«
Tel.: 02232/579 311-0. www.maxernstmuseum.de