Wer schon mal versucht hat, ein Neugeborenes davon zu überzeugen, dass nicht die Nacht, sondern der Tag zum Schaffen da ist, der mag bisweilen erhebliche Zweifel an so etwas wie einem lichtbedingten biologischen Rhythmus hegen, der den Menschen zwischen Phasen der Ruhe und der Aktivität unterscheiden hilft. Babys scheinen intuitiv zu wissen, was der auf dem Vulkan tanzende Gustaf Gründgens 1938 dem zipfelbemützten Bürger als Schlaflied anstimmte: »Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da; die Nacht ist da, dass was gescheh’«. »Jedes Kind kann schlafen lernen« oder »Unser Baby schreit Tag und Nacht« heißen die Ratgeber, in denen das Gegenteil behauptet und auch erklärt wird, nämlich dass die Kulturtechnik des Durchschlafens eine angeblich gar nicht so schwer zu erlernende ist. Vorausgesetzt, die entnervten Eltern zeigen sich bereit, auf Schaukelei, Gesumme, Gesinge und verwandte Aktionen zu verzichten und den Liebling sich stattdessen einfach mal in den Schlaf schreien zu lassen. So lässt sich etwa mit der Estivill-Methode »sanft, schnell und wirkungsvoll« lernen, was spätestens mit Eintritt ins Erwerbsleben sehr lästig werden kann: ein nächtlichen Schlafbedürfnis. Genau das nämlich ist mit den Anforderungen nicht erst der Arbeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts bisweilen schwer vereinbar.
Auf gewisse Weise ist es eine Reise ans Ende der Nacht, zu der das Rheinische Industriemuseum an seinen sechs Schauplätzen mit der Verbundausstellung »nacht.aktiv« aufbricht. Wirklich finster wird es nur im Schauplatz Bergisch-Gladbach, wo der Besucher sich durch lichtlose Räume tasten muss, sein Sehsinn außer Kraft gesetzt wird und er die damit verbunden Erfahrung von Orientierungslosigkeit und Kontrollverlust machen kann. Doch derartige Situationen sind schon lange keine alltäglichen mehr. Auf bisweilen sehr erhellende Weise schärfen die Schau und der sie begleitende materialreiche Katalog den Blick für das Verschwinden dessen, was wir per definitionem mit der Nacht verbinden: Dunkelheit. Dass der Westen tatsächlich leuchtet, heller denn je, zeigt anschaulich eine Satellitenaufnahme des nächtlichen Europa, auf der sich das Ruhrgebiet nach London und Paris strahlend als drittgrößter Ballungsraum des Kontinents zu erkennen gibt. Wenn der Himmel über dem Revier weniger bestirnt erscheint als andernorts, liegt das weniger daran, dass der Blick wie einst durch den Qualm der Schlote getrübt wird, sondern an der Lichtverschmutzung. Weshalb die astronomische Definition der Nacht zunehmend an Anziehungskraft verliert, mag die Erde auch nach wie vor mit berechenbarer Verlässlichkeit um die Sonne kreisen.
Thomas Alva Edison wird die Überzeugung zugeschrieben, dass Schlaf faul, dumm und krank mache. Im Lichte dieser zweifelhaften Erkenntnis wäre seine Erfindung der Glühbirne nicht nur ein zivilisationsgeschichtlicher Coup allererster Güte, sondern zudem auch noch ein moralischer Meilenstein. Mit der Dunkelheit ist dem Faulen auch die Ausrede genommen, dass nur produktiv sein kann, wer sieht, was er (be-)arbeitet. Die Arbeitsmedizin hingegen hat ganz andere, praxiserprobte Einsichten gewonnen, was den Zusammenhang von Nachtarbeit und Gesundheit betrifft, wovon sich der Besucher der Oberhausener Ausstellung »Der Tag ist nicht genug« überzeugen kann. Wer nächtens statt im Bett zu liegen etwa am Hochofen steht, Taxi fährt oder Bereitschaftsdienst schiebt, stellt mit der Familie nicht nur eine ehedem wichtige (Re-)Produktionseinheit der bürgerlichen Gesellschaft auf harte Proben. Nachtarbeit ist auch dem Immun- genauso wie dem Herz-Kreislauf-System nicht unbedingt zuträglich, was uns daran erinnert, dass sich die naturgegebene Ausstattung des Menschen nicht gänzlich kulturell überformen lässt. Die innere Uhr ist kaum vollends mit der Taktung moderner Gesellschaftssysteme zu synchronisieren.
»Der Tag ist nicht genug« gibt dem Besucher zwar einen roten thematischen Faden durch das Labyrinth der Nacht an die Hand, nicht aber einen Weg vor; stattdessen finden sich die unterschiedlichen Formen spätabendlicher und frühmorgendlicher Betriebsamkeit sternförmig im Raum aufgefächert. Ein Blick ins kleinbürgerliche Schlafzimmer lässt sich hier genauso riskieren wie in die schummrig beleuchteten Zellen eines Düsseldorfer Bordells; war man eben noch im Krankenhaus, steht man kurz darauf schon in einer Nachtbar, um sich dann in einem Kinderzimmer wiederzufinden, wo die an der Wand aufgereihten Schnuller stumm Zeugnis davon ablegen, dass das Einschlafenmüssen eine ziemlich aufregende Sache sein kann. Das Gegenteil gilt in der Regel für das erzwungene Wachbleiben, wenn der Schnuller erst einmal durch den Kaffeebecher und der Daumen durch die Zigarette ersetzt worden ist. Die Fotografin Brigitte Kraemer hat für die Solinger Ausstellung »Im Dunkel der Stadt« mit ihren Porträts der anonymen Masse derer Gesichter gegeben, die ihren Dienst versehen, wenn die Mehrheit der Menschen im Bett liegt. Wobei all die Barkeeper, Bäcker, Polizisten und Nachtschwestern schon lange keine kleine Minderheit mehr sind, leisten doch immerhin 30 Prozent aller Erwerbstätigen in unterschiedlichem Umfang Nachtarbeit. Die für die Ausstellung Interviewten leiden weniger an der Müdigkeit, mehr haben sie es mit etwas zu tun, was die Chronobiologen »sozialer Jetlag« nennen und die Zeitverschiebung zwischen der persönlichen und der gesellschaftlichen Uhr meint. Vor dem Hintergrund von Rolf Kreuels unter dem Titel »Keine Nacht nirgends« gezeigten Aufnahmen von taghell beleuchteten öffentlichen Plätzen und Straßen ließen sich die Porträtierten geradezu als Avantgarden einer nimmermüden Dienstleistungsgesellschaft beschreiben, die mit der Dunkelheit auch ihre Ruhezeiten verliert.
Wenn Karriereberatern und Personalentwicklern hingegen die Erholung mittlerweile von beachtlichem Gewicht ist, um die strapazierte »Work-Life-Balance« ihrer Klienten im Lot zu halten, so vor allem deshalb, weil man mittlerweile erkannt hat, dass »Schlafkompetenz« durchaus zur Effizienzsteigerung beitragen kann. Ein mittäglicher Power Nap, so haben Chronomediziner herausgefunden, wirkt sich durchaus leistungssteigernd aus und wird in Unternehmen mittlerweile immer öfter durch eigens dafür vorgesehene Ruheräume gefördert. Doch selbst die steigende Toleranz für derartige Kraftnickerchen während der Arbeitszeit vermag kaum darüber hinwegzutäuschen, dass die Menschen immer unausgeschlafener sind, derweil die Städte, in denen sie leben, immer heller und lauter werden. So hat sich seit Beginn der Industrialisierung der durchschnittliche Nachtschlaf in Deutschland von acht bis neun auf sieben Stunden reduziert.
Obwohl sich das Thema Arbeit leitmotivisch durch viele der Ausstellungen zieht, beschränkt sich »nacht.aktiv« nicht allein darauf, der nächtlichen Werktätigkeit nachzuspüren. Schließlich gibt es auch noch andere Gründe als finanzielle, um die Zeit zwischen Abend- und Morgendämmerung nicht im Bett zu verbringen. Die Nachtschwärmerei folgt auf ihrer Suche nach Erfahrungsintensität manchmal eigenen und bisweilen irrationalen Gesetzen. Dafür bedarf es, wie am Schauplatz Ratingen als kleine Kulturgeschichte der Abendgarderobe zu sehen ist, auch einer eigenen Kleiderordnung. Derweil die Ausstellung »Im Dunkel der Stadt« in Solingen den Besucher zurück ins Wirtschaftswunder-Deutschland versetzt, in eine Zeit, in der der Striptease noch Schönheitstanz, die Nachtclubs Amigo- oder Kolibri-Bar hießen und ihre Gäste mit züchtiger Erotik und lebendigen Leoparden bei Laune hielten. In Solingen hat man die 1960 in der Neuen Rhein Zeitung erschienene mehrteilige Reportage von Alois Weber und dem Fotografen Gerd Propach über das Nachtleben der Stadt aus dem Archiv gezogen – ein Glücksfall. Denn mit Propachs Aufnahmen setzt die Schau nicht nur überaus atmosphärisch ein Panoramabild verborgener kleinstädtischer Nachtaktivität zusammen. Sie dienen auch so manchem kultur- bzw. technikhistorischen Exkurs als Ausgangspunkt oder Hintergrund, vor dem sich etwa eine kurze Erfolgsgeschichte der Straßenbeleuchtung sinnvoll und anschaulich erzählen lässt. Auch der filmischen Taxifahrt durch das Solingen 2007 sind die Bilder Propachs eine schärfende Kontrastfolie. Dem auswärtigen Ausstellungsbesucher will Solingen heute zwar heller erscheinen, keineswegs aber lebendiger. Zu einer Stadt, die niemals schläft, gehört eben mehr als nur ausreichend starke Beleuchtung.
Bis Sommer 2008 an den Schauplätzen des Rheinischen Industriemuseums in Bergisch-Gladbach, Engelskirchen, Euskirchen, Oberhausen, Ratingen und Solingen. Der Katalog zur Ausstellung ist im Klartext-Verlag erschienen, 176 Seiten, 14,90 Euro. www.rim.lvr.de/