TEXT: CHRISTOPH VRATZ
Wer sein Kind auf eine Musikschule schickt, weil es zum guten erzieherischen Ton gehört, muss Risiken und Nebenwirkungen einkalkulieren. Xavier de Maistre, Star-Harfenist aus Frankreichs Süden, erhielt seine ersten Lektionen in der Musikschule Toulon. »Berufsmusiker« stand dort nicht auf der Agenda. Deshalb entschloss er sich nach der Schule, halb aus Einsicht, halb aus Gehorsam, zum Politikstudium. Doch als er für ein Auslandssemester nach London ging und dort für ein halbes Jahr auf seine Harfe verzichten musste, wurde ihm klar: Musik und nichts sonst. De Maistre entschied sich endgültig, als er seinen ersten Vertrag beim Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Lorin Maazel unterschrieb. Von dort ging er 1998 zu Wiens Philharmonikern.
Wieso Harfe? Es war die Folge eines Kinderschwarms. Er habe sich, sagt er, »ein wenig in die Lehrerin unseres Musiktheorie-Kurses verguckt. Sie hatte gerade eine Harfenklasse aufgemacht, aber noch zu wenige Schüler. So bin ich hingegangen.« De Maistres musikalischer Weg verlief nicht normgerecht. Mit 14 ans Konservatorium von Lyon, wo er zwei Jahre später aufhörte, »weil es mir dort fast die Lust genommen hätte«; dann nach Paris, zu einer 75-jährigen Dame, die längst nicht mehr am Konservatorium unterrichtete, von der er aber sehr viel gelernt habe.De Maistre ist Klischee-Denken über sein Instrument zuwider. Fraueninstrument? Wieso? Fast alle großen Harfenisten im 19. Jahrhundert seien Männer gewesen. »Es gibt überhaupt keinen physisch nachvollziehbaren Grund, warum die Harfe nur von Frauen gespielt werden sollte.« Als er vor etwa zehn Jahren eine Dozentur an der Musikschule in Hamburg annahm, schnellte die Männer-Quote auf fast 20 Prozent.
Kurioserweise erfolgte seine Bewerbung in Wien zeitgleich mit dem Beschluss des Orchesters, erstmals Frauen zuzulassen. De Maistre erinnert sich: »Da kam die Neubesetzung an der Harfe gerade recht. Dachte man. Die ersten beiden Probespiel-Runden fanden hinter einem Vorhang statt. Man einigte sich auf zwei Kandidaten, der Vorhang fiel – umso größer die Verblüffung, dass einer der Favoriten männlich war. Unruhe kam auf, weil allen klar war, dass von außen sofort an der Ernsthaftigkeit des Frauen-Beschlusses gezweifelt würde. Zu meinem Glück war am Ende der Punkteabstand eindeutig.«
Wider das Schablonendenken, immer wieder! Schweiß treibt es de Maistre auf die Stirn, wenn er mit Dirigenten arbeitet, die überrascht sind, dass man auf einer Harfe tatsächlich Legato spielen kann. Auch denken viele beim Stichwort Harfe zunächst nur an die Klang-Impressionisten Debussy und Ravel. Doch de Maistre hat bewiesen, dass auf scheinbar abseitigen Pfaden Originalität einzuholen ist. Etwa als er Haydn-Klavierkonzerte aufführte, ohne nennenswert in die Klavierstimme einzugreifen. Was im ersten Moment wie ein kühnes Experiment klingt, ist für den Harfenisten keinesfalls ungewöhnlich: »Haydn hat diese Werke genauso wenig für den modernen Flügel geschrieben wie für Harfe. Man kann also nicht behaupten, dass die Pianisten auf dem Steinway-Flügel näher dem Originalklang sind als ich auf der Harfe.«
Ein Solisten-Dasein hatte er lange nicht auf seinem Ticket. Seine Lehrerin in Toulon habe ihm gesagt, »dass Beste, was Du als Harfenist erreichen kannst, ist eine Position in einem Top-Orchester«. Als er dann mit 24 in Wien angekommen war, musste er sich also fragen: »Und jetzt? Keine Steigerung mehr möglich? Das war anfangs ernüchternd. Heute kann ich sagen: Ich habe mir mehr erfüllt als ich jemals zu träumen gewagt hatte.«
Für seine neueste CD hat sich Xavier de Maistre erneut auf eine Abenteuerreise begeben, indem er das musikalische Venedig auf Harfen-Kompatibilität hin erforscht. Klar, der Hörer erwartet zuerst Vivaldi und bekommt ihn. Er sei fasziniert von den Orgel-Bearbeitungen gewesen, die Bach von den Konzerten Vivaldis angefertigt hatte, und wollte diese Stücke zunächst eins zu eins für Harfe übernehmen. »Aber im Falle Vivaldi war ich damit nicht ganz glücklich.« Also suchte er nach einem professionellen Bearbeiter. Denn für die lang gehaltenen Noten, die auf der Harfe physikalisch nicht möglich seien, und für andere geigenspezifische Motive wie Arpeggien oder große Tonsprünge mussten geeignete Alternativen her, erklärt er.
An Vivaldis kompositorischem Aushängeschild, den »Vier Jahreszeiten«, mogelt sich de Maistre nicht vorbei. Da erlaubt die Harfe eine Reihe lautmalerischer Effekte. Vor allem beim »Winter«: »das Krachen des Eises, die wattigen Schneeflocken, die schneidenden Windböen«. Das lässt sich wundervoll zum Ausdruck bringen. Wie man hört!
Doch bleiben seine Venedig-Erkundungen nicht in der Mitte des 18. Jahrhunderts stecken. De Maistre findet, dass die Stadt zu oft im Barock-Gewand dargestellt werde, dabei liefere sie epochenübergreifend viel mehr Facetten. »Das Leuchtende, Traurige, Prachtvolle, Morbide.« Deshalb sei er immer auf der Suche nach oft gegensätzlichen Farben, um sie auf der Harfe zu verbinden. Etwa in Félix Godefroids »Carnaval de Venise«: pralles 19. Jahrhundert. Oder in »La Mandoline«, einer mehr an Neapel erinnernden Fantasie von Elias Parish Alvars, den Berlioz einmal euphorisiert als Liszt der Harfe bezeichnet hat. Doch lässt sich in den girrenden Tonwiederholungen des Stückes auch etwas vom Charakter Venedigs erkennen.
Für de Maistre muss die Harfe »klingen wie ein Orchester. Die wenigsten wissen, dass man auf ihr große, kräftige Töne erzeugen kann, neben den sehr feinen und transparenten«. Bei der Vielseitigkeit des Instruments könnte man glauben, es sei, wie die Orgel, bestens geeignet für Improvisationen. Doch hier, zum ersten Mal, schränkt Xavier de Maistre ein: »Man hat allein sieben Pedale zu bedienen. Da muss man sich schon vorher ungefähr über die Abläufe der Musik im Klaren sein. Man kann nicht einfach drauflos spielen, selbst wenn man es wollte.«
14. Nov. 2011, Philharmonie Köln mit dem Orquestra de Cadaqués; 18. Nov. Konzerthaus Dortmund und 19. Nov. Münster, im Trio mit Magali Mosnier (Flöte) und Antoine Tamesit (Viola).