Sie zogen zottelbärtig durch die Nacht und ermahnten Jugendliche in Wuppertal, doch bitte keine Diskotheken aufzusuchen und die Finger von Alkohol und Zigaretten zu lassen. Der kleine Trupp um den salafistischen Prediger Sven Lau hatte sich, damit jeder wusste, worum es ging, orangefarbene Warnwesten mit dem Aufdruck »Shariah Police« übergezogen. Die Erregung war groß.
NRW-Innenminister Ralf Jäger wertete die Westen als Uniform und verbot sie. Der allgemeine Tenor: Es ginge nicht an, dass ein paar Salafisten sich Polizei nennen und durch die Straßen patrouillieren. Weniger empörte man sich über die Ziele der Shariah Polizei, denn die wird von immer größeren Teilen der Bevölkerung und der Politik selbst geteilt. Dem Konsum von Alkohol und Tabak ist längst der Krieg erklärt, und wenn schon Disko-Besuch, dann lieber als Teil einer rauschfreien After-Work-Party.
Torsun Burkhardt, Sänger der Band Egotronic, fasst das Ergebnis dieser Entwicklung im Magazin Intro zusammen: »Als ob es nicht reicht, morgens vom Wecker aus dem Bett geprügelt zu werden, verlassen die arbeitsamen Streber jetzt schon zwei bis drei Stunden früher die eigenen vier Wände, um bei – bitte haltet euch fest – Smoothies, Kaffee und sonstigen vitaminreichen Softdrinks in den Arbeitsmorgen zu feiern. Unnötig zu erwähnen, dass Alkohol und sonstige Rauschmittel auf dieser Art Event absolute No-Gos sind und deshalb gar nicht erst angeboten werden. Vorbei sind die Zeiten, als man noch loszog, um sich in die Arbeitsunfähigkeit zu feiern.«
Ein Land wird nüchtern und drückt verschämt die letzte Kippe aus. Eine Kultur der Selbstdisziplin greift um sich. Jörn Schulz brachte es vor zehn Jahren in der Jungle World auf den Punkt: »Vorbei sind die Zeiten, in denen der symbolische Gesamtkapitalist ein dicker Mann mit Zigarre war, dem man selbstverständlich unterstellte, dass er sich ständig im Bordell mit Champagner besäuft. Der zeitgenössische Kapitalist ist ein drahtiger Sportsmann, der am liebsten Wasser trinkt, wenn auch das teuerste.« Der neopuritanische Kapitalist ist längst auch kein Feindbild mehr. Das ist jetzt eine soziale Gruppe, die den Fehler beging, zu Anfang der siebziger Jahre nicht dem Bild zu entsprechen, das langhaarige linke Studenten sich von ihr machte: die Arbeiterklasse. Sie hatte das Revoluzzer-Spiel durchschaut und ließ die Jugendlichen in ihren Parkas mit den marxistischen Sprüchen auflaufen. Alan Posener, als junger Mann Mitglied der KPD/AO, erinnert sich in der Welt an ein Zusammentreffen mit dem Proletariat, das er von der Notwendigkeit der Weltrevolution zu überzeugen trachtete: »›Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.‹ Wie oft hatte ich die Parole auf Demos oder vor Werktoren gebrüllt. Nun zeigte mir der Kollege, wie das in der Praxis aussieht.
Ihm war der Stolz anzumerken. Als er mich zum Werkstor zurückbegleitete, sagte er: ›Weißt du, warum ich dir das gezeigt habe? Weil du in fünf Jahren nicht mehr hier bist, sondern zu denen da oben gehörst. Ich aber werde immer noch hier sein. Natürlich habe ich das abgestritten. Mein Platz werde immer an der Seite des Proletariats sein, bla, bla, bla. Ich war jung und brauchte die Illusion.‹ Begütigend klopfte mir der Arbeiter auf die Schulter. ›Nichts für ungut, Junge. Aber glaub mir, so wird es sein.‹ Natürlich hatte er recht.« Posener erinnert sich mit Respekt und Achtung an seine Begegnung mit der Arbeiterklasse. Eine Wertschätzung, auf die das Proletariat heute kaum noch hoffen kann. Sie wurde ersetzt durch Verhöhnung und Abwertung. Seitdem die Arbeiterklasse beschloss, sich nicht für die Erfüllung der Revolutionsträume von Bürgerkindern herzugeben, hat sie nichts mehr zu lachen.
Zum Beispiel nicht bei Kai Twilfer. Dem Besitzer eines Unternehmens für Ruhrgebiets-Kitsch gelang 2013 ein Bestseller. In seinem Buch »Schantall, tu ma die Omma winken!« scheitert ein Sozialarbeiter damit, die Working-Class-Familie Pröllmann zu kultivieren. Ihre Welt scheint ein Schadensfall, den es zu beheben gilt. Nichts bei den Pröllmanns hat Wert, nichts gilt es zu schützen, nichts anzuerkennen. Sie machen alles falsch: rauchen, sind zu dick und haben ein zu intensives Verhältnis zu Sexualität. Und sie sind arm. Das Buch wirkt wie der Versuch, die Stern-Reportage von Walter Wüllenweber (2004) in einen Roman zu übersetzen. Wüllenweber hatte sich mit den Problemen der vermeintlichen Unterschicht in Essen-Katernberg beschäftigt und seinen Protagonisten durchaus Sympathie entgegengebracht. Bei Twilfer hingegen ist die Verachtung kaum kaschiert.
Alles, was gesellschaftliche Ächtung erfährt, wird dem (Sub-)-Proletariat zugeschrieben. Sie arbeiten in Industrien, die man am liebsten nicht mehr im Land hätte. Sie bekommen viele Kinder, und die sind dann auch noch dumm. Urlaub machen sie an den falschen Orten, wo sie in Mengen auftreten, lärmen und sich schlecht benehmen. Der Klassenkampf wird von einer autoritär-ökologisch geprägten Mittel- und Oberschicht geführt. Der Neoprotestantismus duldet keinen Widerspruch, seine Waffe ist die Abwertung anderer Lebensweisen. Kulturkolonialismus! Sigmar Gabriel wusste 2013 noch, wie eine Arbeiterkneipe auszusehen habe. In einem Brief an den Blogger Nico Lumma schrieb der SPD-Vorsitzende: »Ich würde mich freuen, wenn wir darüber im Kontakt bleiben könnten.
Online und gerne auch ganz traditionell sozialdemokratisch: bei einem Glas Bier in einer verrauchten Kneipe. Herzlichst, Dein Sigmar Gabriel.« Die kleine Kneipe hatte die SPD in Zusammenarbeit mit den Grünen da schon seit einem Monat abgeschafft. Mit dem Tugendfuror der ökologischen Oberschicht hatte NRW ein radikales Rauchverbot eingeführt. Überhaupt Kneipe und Bier. Was soll man da trinken? Etwa eine der großen Fernsehmarken oder gar ein Billigbier? Auch am Tresen läuft alles falsch. Bier enthält wenig Alkohol, also muss die Menge stimmen. Nicht so, wenn die Hipster das Sagen haben. Die Süddeutsche Zeitung berichtete im vergangenen Jahr von der Unwissenheit des einfachen Volkes über das Bier: »Der gemeine deutsche Biertrinker glaubt fest daran, dass nach Hellem, Pils und Weißbier die Bierwelt endet.« Dem nicht-gemeinen Biertrinker hingegen erschließt sich nach Lektüre des Manager-Magazins, dass sich gute Biere nicht auf »den ersten Schluck offenbaren« und auch etwas teurer sein dürfen, wenn sie stilecht im Weinglas serviert werden. Immerhin sitzen die Brauer von trendigen Craft-Beeren auch nicht in einem beliebigen Gewerbegebiet am Stadtrand, sondern, wie die SZ erwähnt, in der Nachbarschaft von Softwarefirmen und PR-Agenturen. Selbst zum Biertrinken ist die Arbeiterschicht also zu blöd. Die Bionade-Bourgeoisie zeigt ihr, wo es langgeht.
Auch im Stadion weisen die Fraktionen des Bürgertums den Weg in die Zukunft: Die Auswahl an veganen Gerichten gewinnt bei der Versorgung der Fans an Bedeutung. Hier ist nach einem Ranking der Tierrechts-Freunde von PETA Schalke endlich ganz vorn. Auf dem Fußballplatz eher enttäuschend, hat man sich die Meisterschaft um die fleischlose Wurst gesichert. Die Wurst-Presserei Rügenwalder Mühle will den Trend nicht verpassen und setzt auf Gemüseschläuche statt Leberwurst. Deren Chef Christian Rauffus ist klar: »Die Wurst ist die Zigarette der Zukunft.«
Wer die Mannschaft des Gegners verwünscht, möge zudem deren Gefühle achten. Im Stadion eine Fackel zu entzünden, kann mit der Pfändung des Kontos enden. Eine Strafe von 40.000 Euro wegen Pyrotechnik holte sich unlängst der 1.FC Köln von einem Fan zurück. Die Zeiten, in denen Stadien auch als Orte von Exzessen Bedeutung hatten, gehen zu Ende. Glaubt man einem Anhänger des Alternativclubs Roter Stern Leipzig, ist das auch gut so. Der gibt es so zu Protokoll: »Für mich sind waschechte Proleten Typen, die am frühen Morgen gegen 7 Uhr auf Maloche stehen, sich jeden Tag die Titten von Seite eins in der Bild-Zeitung reinziehen und nach der Arbeit mal schnell über die Alte fleddern. Ich glaube, die können gar nicht anders, als deftig rumzuprollen und einem tristen Alltagstrott hinterher zu hecheln, auf der Suche nach dem vermeintlichen Glück, in Form von Autos, Einfamilienhäusern, Frau, Kind und dem obligaten deutschen Schäferhund.«
Tatsächlich stehen diese »Typen« oft morgens früh »auf Maloche« und wirken daran mit, den Wohlstand zu erarbeiten, den ihre Craft-Beer trinkenden Mitbürger durchaus schätzen. Doch auch die Zeit, da die Arbeiterklasse wirtschaftliche Bedeutung hatte, schwindet. In Hintergrundgesprächen träumen grüne Landespolitiker davon, Industrien wie Stahl- oder Aluminium-Erzeugung in skandinavische Länder auszulagern, wo der Strom aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. Pläne, die in diesen Unternehmen Beschäftigten gleich mit zu deportieren, gibt es bislang nicht.
Arbeiter –»Proll« – wurde in diesem Kulturkampf zum Schimpfwort. Wer sich so verhält, wie der es angeblich tut, wer sich nicht ökoautoritären Normen und Werten unterwirft, ist bestenfalls Objekt paternalistischen Handelns der Volkserzieher. Eigentlich ein Augenblick, um zu sagen: Ich bin Teil der Arbeiterklasse und stolz darauf.