TEXT: ANDREJ KLAHN
Wer sich vor gut zehn Jahren mit der deutschen Kultur und Sprache vertraut machen wollte, der wurde im Abschnitt zehn einer »Sprachlehre Deutsch als Fremdsprache« auch mit der für Innenstädte in Germany typischen Fußgängerzone bekannt gemacht. Dort sei tagsüber immer viel los, ist da zu lesen. »Zu bestimmten Tageszeiten schieben sich die Menschen durch die Straßen.« Und dann können Wissbegierige lernen, was man in diesen Zonen tun kann: kaufen, bummeln, Schaufenster anschauen.
Touristen, die im Jahr 2014 ihre landeskundlichen Kenntnisse nicht nur in Großstädten wie Berlin, Hamburg, Köln oder Düsseldorf testen möchten, sondern sich in kleine und mittlere Kommunen verirren, um in deren Zentren das Wortfeld des Shoppings ungestört vom Verkehr durchzudeklinieren, dürften recht überrascht sein von dem, was sich ihnen bietet. Denn viel los ist in Wuppertal, Duisburg und vielen anderen deutschen Städte nicht einmal mehr zur besten Verkaufszeit. Stattdessen stehen Läden leer. Oder es reihen sich Ein-Euro-Ramschläden aneinander, wo einst kleinere Fachgeschäfte zu finden waren. Denn das Einkaufs-Geschehen hat sich immer mehr raus aus dem öffentlichen Raum hinein in große Einkaufszentren verlagert, in denen private Betreiber über das Hausrecht verfügen. In den letzten Jahren verschärfte dann noch der boomende Internetversandhandel die Krise; mit Online-Shops wie Amazon oder Zalando, die bei kostenloser Lieferung 24 Stunden am Tag geöffnet haben und ihrer Kundschaft eine konkurrenzlos breite Produktpalette bieten.
Die Fußgängerzone hat schon mal bessere Zeiten gesehen. Selbst auf den vorzeigbaren Flaniermeilen der großen Zentren, wo tagsüber tatsächlich noch rege Betriebsamkeit herrscht, hat sich die Lage verschlechtert. Zwar beklagt sich dort niemand über Leerstand, doch die Einkaufsstraßen werden immer gesichtsloser und austauschbarer. International agierende Klamotten-Filialisten, überdimensionierte Elektronik-Märkte und Fast Food-Ketten prägen das Bild; und abends, nach Geschäftsschluss, verödet das Zentrum rasch. Wer eine dieser Straßen kennt, kennt sie alle.
Mit alle diesen Problemen sieht sich auch die Paderborner Fußgängerzone konfrontiert. Ein von Emscherkunst-Kurator Florian Matzner konzipiertes Kunstprojekt setzt sich bis zum 7. September 2014 vor Ort mit gesellschaftlichen wie städtebaulichen Aspekten des »Phänomens Fußgängerzone« auseinander. Selbstverständlich geht es dabei nicht darum, neue Marketingstrategien für eine kriselnde Idee von Innenstadt zu erproben. Ganz im Gegenteil, adressieren viele der Interventionen grundsätzlichere Fragen wie die, ob wir uns den teuren öffentlichen Raum im Herzen der Stadt auch anders vorstellen können denn als Zone, in der sich alles dem Einkaufen unterzuordnen hat.
Gleich eingangs der zentralen Paderborner Einkaufsstraße irritiert eine Wäschespinne den Blick der Passanten. Der in München lebende Benjamin Bergmann hat sie auf den schweren, übereinander gestapelten Betonplatten eines Brunnens aufgespannt. Neben Jeans, T-Shirts und Handtüchern hängen daran auch Unterhemden zum Trocknen aus. Die nassen, farblich sortierten Klamotten erinnern die Passanten an südeuropäische Städte, in denen sich das Leben ganz ungeniert auf der Straße abspielt und die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit fließender sind als hierzulande. Dass es im Brunnen nicht nur sprudelt, sondern auch schäumt, hat allerdings nichts mit Bergmanns Wäsche-Skulptur zu tun. Das Waschpulver, das das Wasser im Becken zu einer dichten weißen Schicht aufgeschäumt hat, wurde von einem unbekannten Passanten hinzugefügt. Es erinnert daran, dass Kunst im öffentlichen Raum – ob ihre Urheber wollen oder nicht – auch mit dem aktiven Betrachter zu kalkulieren hat.
Im Falle der quadratmetergroßen Stadtraumaneignung von Verena Seibt und Clea Stracke sind Benutzungs- und Abnutzungseffekte Teil des Projektes. Ihre Arbeit trägt den Titel »Where the streets are paved with gold«, in ironischer Anspielung auf die Einwanderer lockende Vorstellung, in Amerika sei Reichtum schneller angehäuft als anderswo. In mühevoller Handarbeit haben die beiden ebenfalls aus München stammenden Künstlerinnen hauchdünnes Blattgold auf das Pflaster der Paderborner Fußgängerzone appliziert. Spuren dieser wenig beständigen Aufwertungsmaßnahme werden sich in der Stadt verteilen. Die temporäre, auf eine überschaubare Fläche begrenzte Aktion macht durch die bewusst unangemessenen Mittel angesichts der großen Fläche nicht zuletzt die Vergeblichkeit der Verschönerungsmaßnahme bewusst.
Zeitlich begrenzt ist auch die Strahlkraft von Silke Wagners Neonarbeit »Sometimes«. Mit filigranen Leuchtstoffröhren hat die in Frankfurt lebende Künstlerin einen stilisierten, überlebensgroßen Pfau auf Höhe des ersten Stocks an die Außenwand des Gymnasiums Theodorianum gezeichnet. Wer einen Euro in einen kleinen Münzautomaten wirft, setzt ein rhythmisches Lichtspiel in Gang. Der Beitrag kommt einem guten Zweck zugute und garantiert die Aufmerksamkeit des Zahlenden. Denn in den Einkaufszonen hat schließlich alles seinen Preis. Blau, grün, rot und gelb werden Körper und Gefieder des Tiers animiert. Wie eine Sonne strahlen die fächerförmig angeordneten Striche und Kreise auf den Rathausplatz und verweisen auf die allgegenwärtigen Neonreklamen, die uns den Weg zum Konsum weisen sollen.
In Paderborn ist der Pfau von historischer Bedeutung. Als einst die Reliquien des heiligen Liborius von Le Mans in die Stadt überführt wurden, ist ein Pfau dem Tross vorausgeflogen. So will es die Sage. Bei Ankunft am Dom sei das Tier dann tot vom Himmel gefallen. Mit den ihm zugeschriebenen Attributen Eitelkeit und Aufschneiderei eignet sich der Vogel allerdings auch hervorragend als Wappentier einer jeden Fußgängerzone, denn Shopping ist ja nicht zuletzt immer auch Arbeit am Ego.
Auch andere Arbeiten thematisieren mal hintersinnig, mal spielerisch die betonierte Gleichsetzung des innerstädtischen Raums mit Power-Shopping-Arealen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schossen die Fußgängerzonen im wiederaufgebauten Deutschland allerorts wie Pilze aus den Böden. Sie wurden mit ihren Blumenkübeln zu Symbolen des Wirtschaftswunderlandes. Wenn sie uns heute unzeitgemäß vorkommen, dann nicht, weil dort keine Autos fahren dürfen, sondern weil Menschen allein deshalb Vorfahrt haben, damit sie ungestört einkaufen gehen können. Die Interventionen am »Tatort Paderborn« helfen nun, die Einkaufstüten einmal beiseite zu stellen und zu fragen, warum wir uns das Herz unserer Stadt kaum noch anders vorstellen können denn als Einkaufszentrum unter freiem Himmel.
»Tatort Paderborn«; bis 7. September 2014. http://blog-tatort-paderborn.com