Text: Manfred Schwarz
Die ganze Welt schien damals Kopf zu stehen. So sah es auch ein beklagenswert desorientierter Reporter, der sich für das Fachblatt »Gastgewerbe« einem gefährlichen Selbstversuch unterzogen hatte: Er war zur Eröffnung eines neuen Tanzlokals gegangen. Was zunächst als eher harmloses, kurzweiliges Unterfangen anmutet, konnte im Sommer 1967 durchaus schon einmal experimentelle Züge annehmen. Damals fühlten viele Zeitgenossen zwischen San Francisco und Düsseldorf den Boden unter ihren Füßen wanken. Dem Reporter des Gastronomenblattes aber war er gleich ganz verloren gegangen.
In seinem Bericht behandelt er deswegen nicht allein die Einrichtung des neuen Ladens, er führt auch die beunruhigenden Nachwirkungen des Eröffnungsabends an: »Ich träumte nachts«, lesen wir dort wie in einer Spukgeschichte von E.A. Poe, »ich träumte nachts, daß ich, den Kopf nach unten hängend, an der Decke der Bar entlang spazierte, immer in Angst, herunterzufallen.« Ob dieser Augenzeuge mehr zu sich genommen hatte als Baccardi-Cola? Vielleicht sogar ahnungslos? Der neue »Beat-Schuppen« stand ohnehin vom ersten Abend an unter Verdacht, als heimlicher Drogenumschlagsplatz zu dienen. Die Zahl der Live-Konzerte, die hier später veranstaltet werden – auch die noch völlig unbekannte Band Kraftwerk trat damals hier auf –, dürfte sich mit der Zahl der Polizei-Razzien ungefähr die Waage gehalten haben.
Beides hat nicht unerheblich dazu beigetragen, dass dieses Lokal noch lange nach seiner Schließung 1976 berüchtigt war: Das »Creamcheese« in der Düsseldorfer Altstadt blieb ein legendärer, ein gleichsam magischer Ort, selbst als alles hier schon längst wieder vorbei war. Ort ganz erstaunlicher, ganz großartiger Ereignisse, Ort eines gesteigerten Lebensgefühls für die einen; für die anderen eine verruchte Lasterhöhle, die man niemals, auch nicht bei Tageslicht passierte, ohne sich gleichsam unwillkürlich zu bekreuzigen. In der Kulturgeschichte Düsseldorfs nimmt das Creamcheese einen ähnlichen Platz ein wie das Moulin Rouge im Paris der Belle Époque oder das Studio 54 im New York der 1970er Jahre: Als ein epochemachendes Spektakel. Als Schauplatz einer atemberaubenden Berauschung.
Berühmt geworden aber ist es vor allem als »Aktionskneipe«, als »Kunstkaschemme«, als ein von Künstlern ins Leben gerufener und gestalteter, von Künstlern als Treffpunkt, Vergnügungsstätte und Performance-Bühne frequentierter Erlebnispark. Zugleich Disco und Off-Ort für junge, experimentelle künstlerische Ausdrucksformen, bot dieser Laden etwas ganz Neues, etwas geradezu Spektakuläres: Kunst als Unterhaltung, und Unterhaltung als Kunst – reines Vergnügen. Entgrenzung und Enthemmung durch eine chaotische, sich gegenseitig vortrefflich potenzierende Mischung unterschiedlichster Reizmittel: Beat-Musik, Light-Shows, Film- und Dia-Vorführungen, Happenings und Lesungen, Tanz und Kunstaktionen als furioses Potpourri psychischer Stimulanzmedien. Bewegt euch, lasst euch bewegen, die großen Slogans jener Ära, waren hier, in Gestalt einer intermedialen Diskothek zur Kreation komplexer Sinneserfahrungen, ernst genommen und umgesetzt worden. Hier war alles in Bewegung. Die Welt stand hier Kopf. Im wahrsten Sinne.
Denn das, was die Albträume des Reporters hervorgerufen haben dürfte, hing hier wirklich, mit dem Kopf nach unten, von der Decke des Eingangsraums: Aufgeblasene Plastikenten, die der Künstler Ferdinand Kriwet mit den Füßen unter der Decke befestigt hatte. Schließlich sollte der Besucher des Tanzlokals ja gleich wissen, dass auch er hier auf den Kopf gestellt würde. Und was dem einen zum Nachtmahr wurde, entzückte rasch die einschlägige Kunstszene und zog immer breitere Kreise: Das Creamcheese in der Düsseldorfer Altstadt, das im Juli 1967 seinen Betrieb eröffnete, wurde zum Hot Spot im ganzen Rheinland. Keine andere Diskothek in Deutschland dürfte je eine vergleichbare Ausstrahlung und Anziehung besessen haben.
Ganz zurecht rückt nun auch die Kölner Ausstellung »Pop am Rhein« eine multimediale Rekonstruktion des Creamcheese in den Mittelpunkt des Geschehens, als Herzstück des Parcours, als ein veritables Heldenstück aus der Geschichte der Popkultur im Rheinland: Denn im Creamcheese wurden nicht nur die neuesten englischen Beatplatten gespielt, die der DJ eigens jede Woche aus London importierte – hier entfaltete sich das ganze poppige Treiben auf der Höhe der Zeit. Außerdem gab es keine andere Disco, die so eng mit dem zeitgenössischen Kunstleben, mit einer Gruppe von bedeutenden Künstlern verbunden war. Als einzigartiges Crossover zwischen Pop-Kultur und Kunst-Avantgarde, wie es eben nur in jener Ära des Aufbruchs, der allgemeinen Grenzerweiterung möglich war, ist das Creamcheese ohne Beispiel. Sei-ne Geschichte gehört zu den faszinierendsten Kapiteln im kulturellen Leben der späten 60er Jahre. Und bei weitem nicht nur innerhalb Düsseldorfs. Denn die rheinische Metropole war in dieser Zeit, wie es Karl Ruhrberg einmal zutreffend formulierte, der »Hauptsitz der Avantgarde in Deutschland mit internationaler Ausstrahlung.« Paris, so lautete eine damals weit verbreitete, damals gar nicht so absurd klingende Losung, Paris liegt jetzt am Rhein.
Seit der Formation der Zero-Gruppe und ihren schillernden Happenings in der Düsseldorfer Altstadt, seit den Fluxus-Festen und LIDLAktionen, die ihren Kristallisationskern in der Kunstakademie hatten und sich vom Eiskellerberg in der Altstadt über die ganze Stadt erstreckten wie ein tolldrastischer Mummenschatz, herrschte in der Rhein-Metropole der Zustand einer permanenten »künstlerischen Konferenz« (so der Kunsthistoriker Stephan von Wiese). Genau im Mittelpunkt des ganzen bunten Treibens, zwischen der Akademie, wo Joseph Beuys mit seinen Schülern für hübsche Skandale sorgte, und dem Grabbeplatz, wo, ebenfalls im Sommer 1967, die neue Kunsthalle ihren zukunftswei-senden Ausstellungsbetrieb aufnahm, war das Creamcheese eröffnet worden, auf der Neubrückstraße 12. Zur Eröffnung der »Aktionskneipe« war Beuys zwar nicht gekommen, aber schon bald darauf, im nächsten Jahr, führte er hier gemeinsam mit seinem Schüler Anatol die legendäre Aktion »Stahltisch« auf: als gestenreiche Pantomime eines Eckenstehers in der sonst dröhnenden Disko.
Denn wer Rang und Namen hatte in der damaligen Kunstwelt, wer Teil war jener Szene, in der sich Musiker und Mode-Leute, Filmema-cher und Werbeartisten, leichtbekleidete Schönheitsköniginnen und schwergerüstete Bilderstürmer wie selbstverständlich mischten, kam her, um sich aufpulvern und überwältigen zu lassen. Sogar Willy Brandt soll hier gewesen sein, hingeschleppt von einem seiner Redenschreiber, der die Wirtin Bim Reinert als Double von Jeanne Moreau verehrte. Charles Wilp dürfte hier Inspirationen für seine Afri-Cola-Werbung gefunden haben – schließlich soll die Thekenkraft Mora unter dem luftigen Häkel-Jäckchen den »schönsten Busen der ganzen Stadt« im psychedelischen Lichtergeflacker zur Schau gestellt haben. Und Werner Schmalenbach, der Direktor der Kunstsammlung NRW, bekam seinen Drink von Blinky Palermo eingeschenkt, der damals noch an der Kunstakademie studierte und als Barkeeper im Creamcheese jobbte. Natürlich kehrte auch Frank Zappa mit seinen »Mothers of Invention« ein, wenn sie auf Konzerttournee in Deutschland waren. Schließlich verdankte sich der Name des Lokals einem seiner Songs, »Son of Suzy Creamcheese«.
Der Düsseldorfer Zero-Künstler Günther Uecker, der sich in New York zuvor mit Frank Zappa angefreundet hatte, fand diesen Namen passend, als er gemeinsam mit dem Ehepaar Hans-Joachim und Bim Reinert die Künstler- und Aktionskneipe plante: Als »infernalisches Ereignis.« Als Laborversuch zur Herstellung »zeitlich begrenzter Psychosen«, wie der Herr der Nägel im Rückblick erzählt; als eine »dynamische Skulptur«, wo die »Furiosität der gesamten Ereignisse« zu einer befreienden, berauschenden Reizüberflutung führt. Wo die Leute sich, so Günther Uecker, »im Spektakel produzieren« und ihr Erleben intensivieren können. Die Bewusstseinserweiterung des Publikums wie seine aktive Teilhabe am künstlerischen Geschehen stand in der Konzeption des Creamcheese ebenso im Vordergrund wie in der Kunst jener Jahre. Die Grenzen sollten aufgehoben werden. Zwischen Künstler und Publikum, zwischen Kunst und Alltagskultur: »Leben mit Pop«, so hieß schon Jahre zuvor ein anderes, heute legendäres Kunsthappening in der Düsseldorfer Altstadt.
Natürlich war vor allem der Geist von Zero und Fluxus im Creamcheese zu Hause. Im übertragenen, aber auch im ganz konkreten Sinn. Denn für die Einrichtung und das Entertainment sorgten die Künstler der Düsseldorfer Szene selbst. Heinz Mack schuf für das Lokal eine langgestreckte, mit glänzenden Aluminium-Lamellen verkleidete Theke, die das Diskolicht reflektierte und in ein vibrierendes, mystisches Strahlenballett verwandelte. Adolf Luthers Hohlspiegelobjekte gehörten dazu wie die Experimentalfilme von Lutz Mommartz, die über die Tanzfläche flimmerten. Von Gerhard Richter stamm-te ein monumentales Wandgemälde, das, nach einem Illustriertenfoto, ein hübsches »Pop-Girl« zeigte mit besonders hübschem, unwiderstehlich reizendem Hintern, worauf die Gäste gerne ihre Zigaretten ausdrückten. Ferdinand Spindel und Ferdinand Kriwet waren mit Arbeiten beteiligt, George Rickey und Daniel Spoerri, der mit seiner Kunstaktion »Wir hängen die Theke unter die Decke« den bemitleidenswerten »Gastgewerbe«-Reporter vollends in den Wahnsinn getrieben haben dürfte.
Aber Impresario des ganzen Geschehens war Günther Uecker, der in der New Yorker Underground-Kultstätte The Dome, wo Andy Warhol mit der Gruppe Velvet Underground multimediale Happenings inszenierte, entscheidende Ins-pirationen gefunden haben dürfte. Uecker steuerte nicht nur einige seiner »Terror-Objekte« wie den »Elektrischen Garten« oder die »Windmaschine« zur Einrichtung bei, er bediente in der Anfangszeit auch die Licht-Orgeln und filmte mit einer Infrarotlicht-Kamera das Geschehen auf der Tanzfläche im »Aktionsraum« des Lokals. Diese verwackelten Live-Bilder von den »lebenden kinetischen Plastiken« auf dem Schauplatz Tanz-Bühne wurden dann, auch als Appetizer, auf den Monitoren der »Fernsehwand« im Eingangsbereich übertragen – eine Novität, wie auch die blinkende Leuchtreklame im Schau-Fenster. Einerseits, so Heinz Mack, war das Creamcheese eine »Begleiterscheinung zu künstlerischen Bewegungen, die damals hoch aktuell waren«. Anderseits wurden hier Elemente »zuerst ausprobiert, die heute in jeder Diskothek normal« sind, Stroboskop-Licht etwa oder die Synchronisation von Musik- und Licht-Impulsen für die Tanzfläche. Dort, im halluzinativen »Uterus« (Uecker) der Kneipe, gab es Live-Konzerte von Bands wie Tangerine Dream oder The Icenis, Filmvorführungen von Tony Morgan, eine Performance von Klaus Rinke oder eine futuristische Modenschau von Bernhard Höke, von der die nur in Kohl-Blätter oder Sprüh-Sahne gekleideten Models von der Polizei rasch abgeführt wurden. Das Creamcheese, eine wunderbar schillernde kulturelle Kommune, war in jenen Aufbruchsjahren der zentrale Wallfahrtsort für alle, die sich austoben wollten.
Und zumindest für diese kurze Ära einer unbeschwerten Enthemmung genau jener Ort, von dem Günther Uecker und seine Weggefährten geträumt haben mögen: »Ich will eine Gesellschaft auf der Flucht vor sich selbst am Ort ihrer Wünsche zeigen«, heißt es im Creamcheese-Manifest, das Anfang 1968, zum legendären Happening »Creamcheese Take Off« – Höhepunkt wohl der ganzen Geschichte – verlesen wurde. Dass dies in splendider Weise gelang, das sollte der beeindruckte Zaungast Arnold Bode bestätigen: Er erklärte das Creamcheese mit seinen »Menschenversuchen« (Uecker) umgehend zum Gesamtkunstwerk und lud es zum Gastspiel auf seiner »documenta 68« ein, mit Tanz-Fläche, Beat-Musik und Filmprojektionen. Folgerichtig ist dann auch die Einrichtung des Ladens, nachdem er 1976 geschlossen wurde, ins Düsseldorfer Kunstmuseum gekommen. Als »Trümmer« vielleicht nur, wie Heinz Mack meint, als Schatten vergangener Ereignisse. Aber auch als Monument eines wirklich epochalen Spektakels. Eines wunderbar utopischen Moments, dessen Losung sich im Manifest von 1968 findet, in ebenso schönen wie gültigen Worten. Wir überleben nicht, heißt es da: Wir erleben. //
Pop am Rhein – Strömungen in Musik, Film, Kunst und Clubkultur.Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum,bis 10. Februar 2008. Tel.: 0221/221-22398.www.museenkoeln.de/koelnisches-stadtmuseum/ und www.popamrhein.de