Die, die hier sitzen, an dieser Haltestelle in Essen-Katernberg, haben die Zukunft schon hinter sich. Ältere Männer mit müden Gesichtern, in der Hand eine Flasche Bier; neben sich, als Verkündigung der Gegenwart, eine zusammengerollte Zeitung. Ihr Blick geht hinüber zum Kiosk auf der anderen Straßenseite, in dessen Fenster ein Schild verspricht, dass hier ab fünf Uhr Kaffee und Fríkadellen verkauft werden – für die, die noch einen Grund haben, so früh morgens unterwegs zu sein. Die Gegenwart ist warten, oder auf nichts mehr warten. Die Zukunft aber findet ein paar Meter weiter statt: Die Zeche Zollverein, auch so eine Vergangenheit des Ruhrgebiets, macht sich auf in Richtung morgen. »Wie werden wir morgen leben?« fragt die große Ausstellung »Entry 2006« rhetorisch und gibt die Antwort gleich selbst. 100 Tage lang zeigt sie »Perspektiven und Visionen im Design« und stellt schöne neue Welten vor: Von den riesig-wuchernden Megacities hin zu den winzigen Welten der Nano-Technologie. Doch auch diese Zukünfte beginnen im Gewesenen. Das Gebäude der Kohlenwäsche, 1932 im Stil des Bauhaus von den Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer erbaut, lag nach der Stilllegung 1986 im Dornröschenschlaf, um 2001 von Rem Koolhaas und seinem »Office for Metropolitan Architecture (O.M.A.)« wachgeküsst zu werden. Früher war der Komplex eine riesige Maschine, in der die Kohle aus 800 Metern Tiefe mit Transportbändern auf 40 Meter Höhe befördert wurde, um dann gereinigt und sortiert zu werden. Auch als Besucher nimmt man den Weg der Kohle, Rem Koolhaas hat mit einer klotzig-spektakulären Rolltreppe den Zugang zum neuen Besucherzentrum auf 24 Metern Höhe geschaffen.
Wie eine Gangway scheint sie an das Gebäude herangerollt worden zu sein, ein modisches Orange bildet den gewollten Kontrast zur Bauhaus-Architektur. 90 Sekunden schwebt man gen Himmel, ringsherum verschieben sich die Horizonte, kommen immer mehr Schlote, Förder- und Kirchtürme in das Blickfeld. Im Besucherzentrum, das von einem dunkelroten Info- Tresen dominiert wird, ahnt man die Vergangenheit, sieht die dunkelrostigen Maschinenteile, Rohrleitungen, Stahlträger. Und denkt an die Zeilen eines Songs jener Nena aus den 80er Jahren: »Irgendwie fängt irgendwann / irgendwo die Zukunft an / ich warte nicht mehr lang.« Also über knallfarbene, Koolhaas’sche Treppen hinein ins Innere der Maschine, ins Innere der Ausstellung: »Entry Paradise«. »Entry2006« – das sind eigentlich fünf Ausstellungen in einer, verschiedene Themenfelder bilden das große Ganze. »Entry Paradise« fungiert als eine inhaltliche Klammer der gesamten Ausstellung, verfolgt die Entwicklung vom klassischen Design des 20. Jahrhunderts hin zum »B.A.N.G.-Design« der Zukunft. Kuratiert von Werner Lippert (Projects, Düsseldorf) in Zusammenarbeit mit Prof. Peter Wippermann (Trendbüro, Hamburg) zeigt sich hier, was möglich war und möglich werden kann. Waren es bisher das »Functional Design« (z.B. Gebäude, Küchengeräte) und das »Emotional Design« (z.B. Sessel, iPod) wird das »B.A.N.G.-Design« in der Zukunft immer wichtiger. Hier wird im mikroskopischen Bereich gearbeitet: Mit Bits, Atomen, Neuronen und der Gentechnologie. Design und Wissenschaft vermischen sich zu einer neuen Disziplin. Der Designer wird zum Schöpfer und greift nicht nur wie bisher oberflächlich durch die Gestaltung schöner Gegenstände in das Leben der Menschen ein. Nein, hier geht es um Fundamentaleres, nämlich die Manipulation der Lebensbausteine, der »Elementarteilchen«. Im gleichnamigen Roman von Michel Houellebecq wird der »Neue Mensch« geschaffen, aber soweit ist man hier glücklicherweise noch nicht. Vielmehr wird anhand von Tieren und Zellkulturen gezeigt, was auf der Nano-Ebene möglich ist. Etwa das weiße Kaninchen »Alba«, das den Betrachter ins Wunderland der »Transgenen Kunst« entführt. Da der brasilianische Künstler Eduardo Kac das Erbmaterial des Tieres manipulierte, beginnt es, sobald es mit UV-Licht bestrahlt wird, grün-fluorizierend zu leuchten. Er wollte demonstrieren, was mittlerweile in den Laboren zum Alltag gehört, und provozierte damit prompt einen Kunstskandal.
Keine Kunst, sondern ein Forschungsergebnis ist die »Ohrenmaus«, jener nackte Nager, auf dessen Rücken ein nachgebildetes menschliches Ohr transplantiert wurde. Das Ohr bestand aus biologisch abbaubaren Kunststoff und Knorpelzellen einer Kuh, die sich auflösten und von mauseigenen Körperzellen ersetzt wurden. Das Bild der Maus ging um die Welt und ist seither eine Ikone der Gentechnikgegner. In der Ausstellung kann man aber auch ohne schlechtes Gewissen in die winzige Welt der Atome vordringen, man kann selbst zum Schöpfer werden, eigenhändig Moleküle umherschieben und zu etwas Neuem vereinen. Wer möchte, übernimmt die Rolle der Evolution und kann aus den Petunienpflanzen des Künstlers George Gessert eine Auslese treffen. Der Besucher bestimmt so, ob eine Art weiter existieren darf oder in der Evolution untergehen wird. Ein paar Meter weiter sprudelt ein Jungbrunnen. An einer Bar wird Wasser ausgeschenkt, das mehr kann, als nur den Durst löschen. Unter dem Begriff »Functional Food« werden Wässer in drei Funktionen angeboten. Eine Sorte soll das vorzeitige Altern verzögern, die beiden anderen sind für eine schönere, gebräunte Haut und schlankeren Körperbau zuständig. Für den Fall, dass das auf Dauer keinen Erfolg bringt und man in Zukunft ebenso altert wie heute, bietet »Entry Paradise« einen Einblick in die neusten Entwicklungen des Prothesenbaus und der Robotik. Man staunt über mikroprozessorgesteuerte Kniegelenkprothesen, künstliche »fluidische« Hände mit elektromechanischen Ventilen und miniaturisierten Energiespeichern – robotische Endoskelette für behinderte Patienten. Hier werden konkrete Visionen für eine bessere Welt vorgestellt, auf dass die Zukunft ein Paradies werde. Aber: Auf jedes Paradies muss eine Vertreibung folgen, so Kurator Lippert. Er sieht hier eine geöffnete »paradiesische Schere«: eine Weggabelung in eine humane oder inhumane Zukunft. Ein Weg führt zum Beispiel in die Richtung der Roboterentwicklung für die Altenpflege, der andere zu utopischen Terminatorphantasien der Kampfroboter und Waffensysteme. Hier gilt es sich zu entscheiden, was das für eine Zukunft sein soll, die die Menschheit anzustreben gedenkt.
Den Kritikern wird ein Lächeln entgegengeschickt, zwar ein künstliches, aber dank Silikonhaut ein täuschend echtes. Die Themenwelt »Second Skin« (Kuratorin: Ellen Lupton, Cooper-Hewitt-Museum, NYC) beschäftigt sich mit den Perspektiven der Materialforschung in den Bereichen Architektur, Medien, Gesundheit, Möbelbau und Mode. Hier kann der Besucher ein gleichgültiges Silikongesicht mit Hilfe einer Mechanik zum Lächeln bringen. Eine Roboterhand wie die von C3PO aus den »Star-Wars«-Filmen, mit spezieller, goldener Metallhaut überzogen, präsentiert sich edel in einer schwarzen Vitrine. »Organic Design« nennt sich diese Disziplin, die die australische Künstlerin Donna Franklin mit ihrem Kleid »Fibre Reactive« auf die Spitze treibt. Dieses Kleid besteht aus einer Pilzart, die eigenständig weiterwächst und Gewebe produziert, und dessen rot-braune Färbung sich nach der Fertigung weiter verändert. Von weitem sieht es aus, als hätte der Herbst die Kleidung der Menschen befallen. Franklin will so die Verbindung von Körper und Kleidung, jener zwei Häute, verdeutlichen. Von der Kleidung zur nächsten umgebenden Hülle des Menschen, der Architektur. »Open House-Intelligent Living by Design« (Kurator: Alexander von Vegesack, Vitra Design Museum, Weil am Rhein / Art Center College of Design, Pasadena, USA) ist die Themenwelt, die sich mit den innovativen Entwicklungen der Bereiche Raumgestaltung, Architektur und Kommunikationsdesign beschäftigt. »Rethinking Towers in the Park« zeigt eine Wohn-Vision für Korea im Jahr 2026: Eine vollvernetzte Stadt in grünlich-amorpher »Blob«-Architektur, in der der private Bereich auf das Mindeste reduziert wird, im Gegenzug aber der gemeinschaftliche, kommunale Raum mehr Bedeutung gewinnt.
Zurück in die nähere Zukunft bringt einen »Groundswell: Constructing the Contemporary Landscape« (Kurator: Peter Reed und Irene Shum, Museum of Modern Art, NYC), hier lassen sich Strategien der Landschaftsgestaltung, Renaturierung und Revitalisierung von Stadt- und Industriebrachen studieren. Aber warum in die Zukunft schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Gelten doch Orte wie die Zeche Zollverein selbst oder der Duisburger Landschaftspark-Nord als Positivbeispiele für eine erfolgreiche Revitalisierung der Region. Weltweit werden Industriebrachen durch Renaturierung zu Grün- und Parkanlagen umgestaltet. Die ehemalige New Yorker Müllhalde in Staten Island war bis vor kurzem ein menschenfeindlicher »Nicht-Ort«; sie soll in den nächsten 15 Jahren zu einem riesigen Naherholungsgebiet mit Wasserläufen und rauschenden Wäldern erschlossen werden. Hier knüpft »Talking Cities« (Kuratorin: Francesca Ferguson, urban drift productions Ltd., Berlin) an und fragt: Was wird aus den Städten mit ihren zersiedelten und teilweise verwaisten Strukturen? Welcher Raum bleibt übrig, wenn immer mehr Menschen Stadtflucht betreiben? Sind die wuchernden Vorortsiedlungen mit ihren verklinkerten Einfamilienhäusern ein Ersatz für die städtischen Lebensräume? Mit der Interdisziplinarität zwischen Design und Architektur reagiert dieser Ausstellungsteil collagenhaft mittels Ideen und Strategien auf urbane Missstände, zeigt aber auch die Lebenswirklichkeit in den Megacities. Wo Platz knapp wird, passt der Mensch sich an. Wie in Tokio, wo selbst kleinste Ecken mit »Pet Architecture« bebaut werden; die winzigen Häuser sind oft nur einen Meter breit, dafür aber zehn Meer tief und zwei Stockwerke hoch. Der Zwischenraum wird zum Lebensraum. Ungenutzter, »negativer Raum« wird reaktiviert, beispielsweise in der chinesischen Stadt Guangzhou, wo unter der 63 Kilometer langen Ringautobahn Billard gespielt wird und eigentlich tote Flächen zu neuem, sozialen Leben erwachen. Den Zwischenraum zur Kunstform erhoben hat die Studentengruppe »Interbreeding Field« und hat aus 1200 Hölzern eine begehbare Raumskulptur geschaffen, mit dem Ziel, sich in die gegebene Architektur experimentell einzumischen.
Das ist viel Stoff für einen Ausstellungsbesuch. Man taucht ein in die vielen schönen neuen Welten, die Zukunft könnte kommen. Könnte. Denn man kennt diese Bücher aus den 50er und 60er Jahren, die meistens Titel wie »Die Welt morgen « trugen und mit Sciencefiction-haften Illustrationen vom Jahr 2000 erzählten. Alle Menschen sind glücklich und sehen aus wie frisch vom Perry Rhodan-Cover hinabgestiegen; keine Armut, Krankheit und kein Tod mehr auf der Welt, dafür silbrige Städte, fliegende Autos und Raumstationen. Irgendwie hat man sie noch vor Augen, diese Bilder, beim Gang durch die »Entry2006«. Denn das ist die Gefahr: Die Visionen von morgen können schnell der Schnee von Gestern sein. Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann sagte einmal: »Das Visionäre muss immer etwas Erhabenes sein.« Die Zukunft geht also über das hinaus, was vor den rußigen Wänden der Kohlenwäsche hängt. Wird eine Vision Realität, verschwindet sie und wird zu etwas Vollendetem, längst Festgestelltem. Das, was einmal Vision war, wird zum Alltäglichen, wie das »elektrische Kommunizieren«, Spaceshuttles oder der Tunnel zwischen Calais und Dover. Die Welt von morgen wird kommen, und sie wird von Menschen geformt. Von den heutigen Visionären und den zukünftigen Lebensformen. Bis dahin gilt der Satz aus dem Film »Matrix«: »Willkommen in der Wüste der Wirklichkeit.« //
26. August bis 3. Dezember 2006. www.entry-2006.com