TEXT: ANDREJ KLAHN
Einen Moment lang war man dann doch irritiert, als im Sommer 2010 die Meldung Verbreitung fand, dass der Stroemfeld Verlag Freiwillige suche, denen Peter Kurzeck im Frankfurter Literaturhaus seinen neuen Roman diktieren wolle. War damit bloß das Vorlesen eines Manuskripts gemeint? Oder sollte da etwas während des Diktats überhaupt erst entstehen? So wie in dem vor vier Jahren bei »supposé« erschienenen, sich als Roman offerierenden Hörbuch »Ein Sommer, der bleibt«, in dem Kurzeck das Dorf und die Zeit seiner Kindheit wieder hatte auferstehen lassen – über knapp fünf Stunden und ohne Textvorlage. »Sich so reinreden« nennt er das an einer Stelle in »Ein Sommer, der bleibt«, wobei der supposé-Verleger Klaus Sander Kurzeck mit seinen Fragen die wenigen Stichworte lieferte, die es braucht, um das Erzählen Kurzecks in Gang zu bringen. Wollte Peter Kurzeck nun also drei Monaten lang und vor Publikum seinen Roman »Vorabend« runtersprechen, wiederum ohne Manuskript?
Denkbar wäre es gewesen, doch so kam es dann doch nicht. Kurzeck bat ein paar Freiwillige zum Diktat, weil die auf einer alten Schreibmaschine entstandenen Manuskriptseiten sich wegen der ausführlichen handschriftlichen Korrekturen gegen jede automatische Texterkennung sperrten. Wer sich jetzt an den notorischen Fahnenbeschreiber und obsessiven Erinnerungsfanatiker Marcel Proust erinnert fühlt, liegt im Falle Kurzecks auch inhaltlich nicht falsch. Denn dessen Vorhaben lautet ganz unbescheiden: »Die ganze Gegend erzählen, die Zeit!«
Seit Mitte der 1990er Jahre arbeitet Peter Kurzeck an seinem autobiografischen Großprojekt »Das alte Jahrhundert«, angelegt auf zwölf Bände, deren noch ausstehende Titel bereits festzustehen scheinen, auch wenn mit »Vormärz« erst der fünfte Teil vorliegt. Dass dieses auf Punkt und Komma genaue Diktat auch als Verfertigen des Romans beim Sprechen vorstellbar ist, führt hin auf Kurzecks literarisches Verfahren, das er wie kaum ein anderer beherrscht: die virtuos simulierte Mündlichkeit. Ein langsames Schlendern durch das Haus der Erinnerung, zwei Schritte vor und einer zurück, langsam vorankommend, trotz der abgebrochenen, stakkatohaften Sätze. Denn in jeder Geschichte ist eine weitere verschachtelt, die erinnert, ge- oder erfunden werden will, ja muss.
»Vorabend« setzt ein, wo der vierte Band, »Oktober und wer wir selbst sind«, endet: Der Erzähler, den die vierjährige Tochter Carina »Peta« nennt, verdient sich und der jungen Familie im Antiquariat das Brot, während er nachts an seinem dritten Roman arbeitet. Es ist die Zeit kurz vor der traumatischen Trennung von Sibylle, der Mutter des Kindes. Am Küchentisch sitzend, wartet »Peta« auf den Anruf seines Freundes Jürgen, vergegenwärtigt sich die gemeinsamen Tage in Frankfurt Eschersheim, die er mit Sibylle und Carina bei Jürgen und dessen französischer Freundin Pascale verbracht hat. Eine neue Tür geht auf: An einem dieser Nachmittage beginnt er von seiner Jugend im hessischen Dorf Staufenberg zu sprechen, in dem Kurzeck zusammen mit Mutter und Schwester als böhmisches Flüchtlinkskind nach dem Krieg lebte. Die Wirtschaftswunderzeit zieht vorüber, in denen bunte Werbeprospekte das Glücksversprechen des Konsums selbst in die hinterste Provinz tragen, die ersten Fernsehapparate flimmern in den Wohnzimmern, es gibt endlich wieder »die gute Butter« und kleine Städtchen bauen überdimensionierte Freizeitbäder. Aufbruchsstimmung, die nicht weiter als in das neue Einkaufszentrum trägt, von dem die Einheimischen nicht wissen, ob es nun »Sitti Senta« oder »Zitti Zenta« heißt. Tiefkühltruhen, die leise in den ausgebauten Kellern surren, gleich neben der neuen Waschmaschine. So inventarisiert Kurzeck die biedermeierlichen 50er Jahre bis hin zu den späten 70ern, nicht herablassend, sondern melancholisch akribisch, im Bewusstsein dafür, dass in dieser Zeit des vermeintlichen Zugewinns viel verloren ging.
Während in der Gegenwart des Erzählers die Jahreszeiten wie im Fluge vorbeiziehen – »War nicht eben erst Herbst und jetzt ist schon wieder Herbst?« –, vermag er rückblickend die Zeit zum Stillstand zu bringen. »Gerade weil alles vergeht. Aber beim Erzählen, sobald man anfängt zu sprechen, ist immer Gegenwart.« In immer neuen Anläufen wird das Gestern zum Jetzt, Tage lagern sich übereinander. Nicht durch Reduktion setzt dieses Erzählen sein intensives Aroma frei, sondern durch intensive Weitschweifigkeit. Kurzeck lässt sie uns kosten, die Essenz dieser Jahre, die wir nun miterlebt haben, ohne dabei gewesen zu sein.
Peter Kurzeck, »Vorabend«. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2011, 1022 Seiten, 39,80 Euro
Peter Kurzeck liest am 23.5. im Heine Haus Düsseldorf und am 24.5. im Literaturhaus Köln.