Zu den »Ordentlichen und Gewöhnlichen«, die in der Erzählung »Tonio Kröger« von eben diesem Unordentlichen und Besonderen abgegrenzt werden, gehören die Buddenbrooks auch nicht. Spätestens nicht mehr seit der zweiten der vier Generationen, die der Gesellschaftsroman als »Seelengeschichte«, gespannt zwischen 1835 und 1877, verfolgt. Es sind Leistungsethiker und/oder »Helden der Schwäche«, wie Thomas Mann seine Figuren des Frühwerks selbst in identifikatorischer Gewissheit oder scheuer Abgrenzung nennt. Die Patrizier aus der Mengstraße sind anders als die sonstigen Kaufherren von Lübeck, die Hagenströms oder Krögers. Ausdifferenzierung, Extravaganz, Ästhetizismus macht ihr Wesen aus. Eine Verfeinerung, die Skepsis, Ich-Beschau, kritische Reflexion meint und ihr Scheitern
– den »Verfall einer Familie« – herauf beschwört. »Abwärts« sollte der Roman in einer ersten Phase heißen. Die spät geborenen Buddenbrooks, die sich nicht als »lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette« empfinden, verweigern sich nun der »Geschlechtsverewigung« zu Gunsten eines heiklen Individualismus.
Die Version, die John von Düffel (ursprünglich für das Hamburger Thalia Theater) eingerichtet hat, konzentriert sich in Engfassung auf ein Thema: die Ökonomie der Verhältnisse. Der Grundgedanke, dass »Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen« (Adorno), dass der Roman in seiner verschlungenen Kombinatorik Metaphysik und Musik, Eros und Tod, dass er Menschenkunde ist und nicht nur fades Rechnungswesen und Abrechnung mit dem Krämergeist darstellt, geht auf der Bühne verloren.
Die Familie als Familienunternehmen, wobei die »Archäologie des Kapitalismus«, die der Bühnenautor beabsichtigt, in ihrer zeitgebunden altmodischen Bedingtheit Mitte des 19. Jahrhunderts nichts aussagt über unsere Wirklichkeit, sondern eher treuherzig wirkt. Daran ändert auch nichts die Kleidermode, die den »Buddenbrooks« in Düsseldorf wie Dortmund angepasst wird. Thomas, Christian und Toni Buddenbrook in ihren Konflikten und Krisen mit sich und den Geschwistern sind keine Leute von heute. Sie taugen nicht als Abbilder einer in ihren Werten verunsicherten deutschen Niedergangs- oder Aufsteigergesellschaft.
Von Düffels Fassung tut eben das, was sie den Figuren vorwirft: nämlich sich ökonomisch zu ihrem Gegenstand zu verhalten. Und verkennt und verkehrt Ursache und Wirkung. Die Verfeinerung ist es, die bei Thomas in repräsentativer Form, in grotesker Weise bei Christian und in sensitiver Schwäche bei Hanno Buddenbrook das Talent für wirtschaftliche Fragen außer Kraft setzt. Der Impuls erfolgreich zu sein erfüllt ihre Existenz nicht mehr. Ihre Distanz zur Handelswelt ist Symbol für die Verwandlung, der sie freilich (noch) nicht gewachsen sind. Ihnen mangelt es an Selbstakzeptanz. Dem narzisstischen Knacks nachzugeben führt in den ekstatischen Untergang, ihn zur verleugnen in einen ermattenden Erschöpfungstod. Während der eine sich gehen lässt, nimmt der andere sich krampfhaft zusammen: Der Senator Thomas sei ein »Dionysier des Todes«, schrieb Thomas Mann im Aufsatz »Über die Ehe«.
In Düsseldorf zeigt bereits der Raum (Barbara Steiner) das Falschspiel: Leben und Arbeit der Buddenbrooks sind Fassade in dem größeren Theater auf einer mit Prospekten, Schminktisch und Vorhang zur Garderobe eingerichteten Lebensbühne. Weil sie eine formale Existenz führen, posieren sie gleich im ersten Bild zur Familienaufstellung: markiert als Demonstrationsobjekte, Ideologie- und Bedeutungsträger, in ihrer Liebes- und Herzenskälte leicht zu durchschauen.
Michael Talke inszeniert über weite Strecken das Konzept- als braves Rampentheater, wobei ihm schöne einfache szenische Übergänge gelingen. Die knapp drei Stunden wechseln zwischen dem Stil seiner Unterhaltungsserie à la »Die Unverbesserlichen« und stilisierter grober und greller Zuspitzung. Dass Toni (geklärt und schlicht: Kathleen Morgeneyer) wie unter Hypnose und mit wachsender Aggressivität den Forderungen des Vaters zur standesgemäßen Ehe nachgibt, schafft einen Moment verdichteter Psychologie. Aber warum derart in die Vollen gehen und die Figuren derart penetrant zurichten (was mit Thomas Manns Leitmotivik wenig zu tun hat)? Die Konsulin (Anke Hartwig) als fanatische Betschwester, die Kirchenlieder herausposaunt. Der Bruderzwist zwischen Thomas (stocksteif zugeknöpft: Matthias Leja) und Christian, den Markus Scheumann nicht verkaspert, sondern zu eindringlich gebrochenem Leidenspathos schärft, wird in einen albernen Clinch ums Mobiliar getrieben, bei dem sie sich wie die Kesselflicker balgen.
So vergreift sich Talke notorisch in Ton und Aktion, wo ihm doch die Sprache und die ambivalenten Valeurs, mit denen der 22-jährige spätere Nobelpreisträger seine Charaktere ausstattet, genügend Spielmaterial böten. Dass er »Buddenbrooks« in depressiver Auflösung und mit dem Schlussstrich, den Hanno unter die Familienchronik zieht, enden lässt, ist noch die beste aller Regie-Ideen.
Was in Düsseldorf den »Buddenbrooks« zuviel an Extrem abgenötigt wird, geschieht ihnen in Dortmund zu wenig, wo sie bei Hermann Schmidt-Rahmer eher unterspannt und – grundiert von Popmusik – wie im Anriss bundesrepublikanischer Aufbaujahre erscheinen. Sie gehen es lockerer, nicht so exaltiert und profiliert an, sind bei Tony, Thomas und Christian (Monika Bujinski, Manuel Harder, Harald Schwaiger) manierlicher und moderater, humoristisch und anekdotisch. Die zunehmende Brutalisierung und Radikalisierung der von Düffel-Fassung macht, dass der zweite Teil nach der Pause jeweils weitaus essentieller, bedrückend und beklemmend wirkt, dass sich wohl gar eine Art Thomas Bernhard’scher Auslöschungs-Stimmung herstellt. Auch der ja ein Spezialist für Untergeher und den Zerfall.
Allein, Christian Buddenbrooks Neigung zum Theater als halbseidenem Amüsement färbt ein wenig ab auf diese Dramatisierungen, als schaue die hohe Literatur herab auf eine nicht ganz geratene Schwester.