TEXT: ANDREAS WILINK
Am Ende blüht ein Kirschbaum in dem spärlichen Hof des Häuschens von Arletty und Marcel Marx. Ein Wunder und Zeichen des Himmels, weshalb »Le Havre« auch weniger ein Märchen, als vielmehr eine weltfromme Legende ist. Dass Wunder »in meinem Viertel« geschehen, bezweifelt Arletty ihrem Arzt gegenüber, als sie mit einer medizinisch für unheilbar erklärten bösen Krankheit ins Hospital kommt: Station 13, Zimmer 13. Ihr soll nur noch wenig Zeit bleiben. Ganz verhärmt sieht die Kaurismäki-Schauspielerin Kati Outinen aus, wenn sie ihrem Mann zuvor das Essen bereitet, die Hosen bügelt, Schuhe poliert, ins Leere blickt und sich Kafka vorlesen lässt. Während sie daniederliegt (und später aufersteht), muss Marcel, der sich als Schuhputzer durchschlägt, allein zurecht kommen. Und mehr als das. Er versteckt bei sich einen illegalen Immigranten, den kleinen Idrissa (Blondin Miguel) aus Gabun, der mit einigen Landsleuten in einem Container den Weg nach Europa suchte und am Hafen von den Behörden entdeckt wurde, und will ihm zur Flucht über die See nach London verhelfen, wo seine Mutter lebt. Wofür Marcel 3000 Euro beschaffen muss. Wir sehen Polizeiaufgebote, besuchen ein Auffanglager in Calais, erfahren Abschiebehaft und hören die Stimme eines Präfekten, der auch besser nicht ins Bild rückt.
Kaurismäki erzählt Geschichten von kleinen Leuten. So wie er das tut, voller Empathie, in heiterem Fatalismus, mit einem humanen Humor und gerade in seiner minimalistischen Stilisierung hoch emotional, würden wohl die Filme aussehen, die ein Charles Chaplin heutzutage drehen würde. Und dann sind da die Dialoge, wie immer kurz und knapp und sehr schmallippig, etwa so, als der Kommissar vor Marcel (André Wilms) seinen Dienstausweis zückt: »Ist das der Seniorenausweis für die Métro?« Antwort: »In Le Havre gibt es keine Métro.«
Die Orte, Möbel und Einrichtung wie getunkt in kräftig klare Primärfarben – ein dreieckiger Couchtisch mit abgerundeten Kanten, eine Blumenvase, die Spüle mit dem Vorhang darunter, rote Nelken, die Marken der Autos – schauen oft aus, als sei die Zeit in den 50ern stehen geblieben und habe alles in ein Museum verwandelt. Der Retro-Look wird zum Gefühlsverstärker und zur Chiffre für einen noch keineswegs und bald vielleicht ohnehin überhaupt nicht mehr selbstverständlichen Wohlstand.
Kaurismäkis Figuren, Gute wie Böse – Typen wie der Kommissar ganz in Schwarz, der sinistre Denunziant (Gastauftritt von Jean-Pierre Léaud), die Café-Wirtin und die Bäckerin mit dem Goldenen Herzen – gestatten sich kaum je eine äußerliche Regung. Aber ihre Schweigsamkeit macht sie beredt. In jedem der ruhig gehaltenen Gesichter steht ein Wissen um den Schmerz geschrieben – und um den Lauf der Dinge, dem sie sich nichtsdestotrotz entgegen stellen, um ihm Einhalt zu gebieten. Selig sind die Sanftmütigen und die reinen Herzens sind in dieser ganz eigenen kauzigen Kaurismäki-Welt. Marcel zitiert einmal die Bergpredigt. Aber nicht zu sehr. Bloß keine Theorie. Und kein Glaubensbekenntnis – katholische Priester kommen hier nur als selbstgefällige Schwätzer in Soutanen vor, die sich die Schuhe putzen lassen, während der Mann aus Nazareth doch selbst anderen die Füße wusch. Bei Kaurismäki braucht es keinen Überbau, ein Dach überm Kopf genügt allemal.
»Le Havre«; Regie: Aki Kaurismäki; Darsteller: André Wilms, Kati Outinen, Jean-Pierre Darroussin, Blondin Miguel, Elina Salo, Evelyne Didi und der Hund Laika; 93 Min.; Finnland/Frankreich/Deutschland 2011; Start: 8. Sept. 2011.