TEXT: ANDREAS WILINK
Zwischendurch wirft sie ein Zitat von Ruggero Mastroianni, dem Bruder Marcellos und dem Cutter des Neorealismus u. a. von Visconti und Fellini, ein. Befragt, ob es für ihn kein Problem sei, nie im Vordergrund zu stehen, habe der Italiener geantwortet: »Wieso, kennen Sie die Hebamme?«. Die Geburtshelferin Juliane Lorenz scheint dieser Haltung zu widersprechen, wenn sie sagt: »Mein Ehrgeiz war es immer, etwas zu präsentieren. So, wie ein Bild zu malen.« Oder gewissermaßen selbst das Kind zur Welt zu bringen.
Sie ist Erbin, Verwalterin, Propagandistin des größten deutschen Filmnachlasses, den von Rainer Werner Fassbinder, dessen Lebensgefährtin sie war. Auch Freundin seiner Mutter Lilo Eder, die ihr das Fassbinder-Vermächtnis dann 1993 vererbt hat, worauf sie die Fassbinder-Foundation gründete. Und Lorenz ist Cutterin – Ende November bekommt sie den Ehrenpreis des Kölner »Filmplus«-Festivals für ihre Leistungen. Dass ihr Name sich nicht nur mit RWF verbindet, zeigt die Eröffnung der Kölner Hommage: mit Werner Schroeters grandiosem Film »Deux«, einer irrlichternden Zwillings-Fantasie mit Isabelle Huppert, der in Deutschland nie zu sehen war und in Nachfolge des gemeinsamen Bachmann-»Malina«-Films entstand.
Für Lorenz waren die zwei Künstler, der eine wie der andere Jahrgang 1945, die entscheidenden Begegnungen und ihre Lebensmenschen. »Beide sind mein Schicksal«, sagt sie. Bei dem Satz müsste man das sardonisch-mild lächelnde Märtyrer-Antlitz Schroeters sehen, um die Aussage angemessen einzuschätzen. Beide Heroen des Neuen Deutschen Films waren von ästhetischer und artistischer Raffinesse, wenngleich höchst unterschiedlich – auch in ihrer Persönlichkeit. Lorenz beschreibt beide als »pflegeleicht«, was andere sicherlich widersprechen ließe. Fassbinders geniehaftes Riesenwerk hat sie von »Chinesisches Roulette« und »Despair« an begleitet bis zum Schluss, darunter mit den Welterfolgen »Maria Braun«, »Lili Marleen«, »Lola«, »Veronika Voss«, »Querelle« und der Fernsehserie »Berlin Alexanderplatz«, die während eineinhalb Jahren das gesamte Team »Tag und Nacht« gekostet hat.
Dennoch räumt sie ein, ihre Montage-Arbeit für RWF sei nicht zu vergleichen mit der »Intensität und dem künstlerischen Impetus« bei Schroeter in den gemeinsamen fünf Filmen und ihrer freien, assoziativen Form. Durch Schroeter sei sie in »Montage-Besessenheit« geraten: »Man kreiert die Geschichte und ist natürlich auch Autor.«
Fassbinder war analytischer, cineastisch versierter, entschiedener in seiner Professionalität, irgendwann auch marktkonformer, als Schroeter. Er hatte den fertigen Film im Kopf – der musste nur noch gemacht werden. Es sei eine Mär, sagt sie – eine der vielen Legenden, dass RWF im Schnittstudio immer dabei gewesen sei (als Cutter firmierte er im Abspann unter dem Pseudonym Franz Walsch). Er wollte autonome Mitarbeiter, die seine Visionen umsetzten, Atem und Rhythmus, den besonderen Fassbinder-Stil eben. »Schätzchen, nun mach mal! Frag mich bloß nicht, was ich gedacht habe. Du musst tun, was du als Cutter verantworten kannst.« Er habe die Leute »verführt, nicht gezwungen«, so Lorenz. »Er traute jedem alles zu – da war er auch kindlich naiv.« Nicht alle hielten das aus und hielten dem stand.
Anders hingegen der von der Callas, von Italien und dem schwarzromantischen Liebestod träumende, 2010 gestorbene Schroeter: »Er ließ sich nicht unter Druck setzen, war unbeeinflusst von Zeit und Geld.« RWF hatte einen Plan, Schroeter lebte seine Passion.
RWF hat ökonomisch und höchst effizient gearbeitet, erkennbar allein schon an dem Verhältnis von abgedrehtem und verwendetem Filmmaterial: »1 : 4« im Durchschnitt, mal mehr, mal weniger, rechnet Lorenz vor. Zum Vergleich: Werner Schroeters »Malina« lag bei »1 : 12«; Oskar Roehlers »Agnes und seine Brüder«, den sie auch geschnitten hat, gar bei »1 : 16«.
Aufgewachsen mit dem Kino der 60er, mit Conny & Peter, Jerry Cotton und amerikanischen B-Pictures, sagt Lorenz, habe sie »das Sehen nicht gelernt«. Bei der Bavaria absolvierte sie ihre Assistenz-Monate und erlebte den Filmalltag der frühen 70er Jahre zwischen Hallervorden, Rühmann und dem literarischen Franz Peter Wirth. Dann folgte die Euphorie und verteufelte Hoch-Zeit der Fassbinder-Hochbeschleunigung, bis zu dessen frühem Tod 1982. »Die Kohl-Ära begann. Ich war 26 Jahre alt und hatte nichts in den Händen.«
Letztlich ist den meisten von uns, selbst Semi-Profis, die Montage ein Phänomen, die vom Sog der Geschichte geschluckt wird und in der Wahrnehmung weder der Ratio zugänglich noch emotional bewusst wird. Umso weniger, je erzählerischer, fließender, dramatischer, poetischer, epischer ein Film. Wenn, dann springt das Abrupte und Hektische ins Auge: »Schnell schneiden kann jeder«, qualifiziert Juliane Lorenz. Der Vorgang selbst, der Zugriff und Eingriff, bleibt geheimnisvoll. Und hat etwas Alchemistisches, trotz seiner virtuosen Handwerklichkeit, wobei wir die Kameraarbeit nicht unerwähnt lassen dürften und hier nun von Elfi Mikesch, Michael Ballhaus und Xaver Schwarzenberger sprechen müssten …
»Es gibt keine Prinzipien. Nur die Eroberung des Materials«. Ein Statement. Wie dieses auch: »Meine Arbeit als Cutterin hat mich für mein Leben strukturiert sein lassen.« In Juliane Lorenz’ dezent imperialem Auftreten lässt sich daran nicht zweifeln.
Filmplus Festival; Forum für Filmschnitt und Montagekunst, 22. bis 25. November 2013; Köln; drei Wettbewerbe mit jeweils fünf nominierten Filmen, bei den Spielfilmen u.a. Cate Shortlands »Lore« und Jan-Ole Gersters Überraschungserfolg »Oh Boy«, bei den Doku-Filmen u.a. David Sievekings »Vergiss mein nicht«; Gastland ist Belgien, die Hommage ein weiterer Themenbereich.
»Fassbinder JETZT« heißt eine Ausstellung zu Film und Videokunst, die am 30. Oktober 2013 im Deutschen Filmmuseum Frankfurt eröffnet wird (bis 1. Juni 2014) und zeitgenössische Künstler wie Tom Geens, Runa Islam, Maryam Jafri, Jesper Just, Jeroen de Rijke / Willem de Rooij und Ming Wong im Dialog mit RWF zeigt.