TEXT: INGO JUKNAT
Aufregend wirkt Ehrenfeld an diesem Abend nicht. Das Wetter ist mies, der Regen lässt die Venloer Straße noch generischer aussehen als sonst. Es ist eine Shoppingmeile im Grenzland – weder Trash noch edel, irgendwo zwischen Starbucks-Klon, E-Plus-Shop und Bioladen. Die Gebäude stammen zum Großteil aus den 60er Jahren. Es ist, als hätte der Regen sie geschrumpft. »Hier passiert am Wochenende so ziemlich alles«, sagt Gina Schwarz. Wir sind ein bisschen skeptisch.
Unser blonder Tourguide leitet einen schwedischen Modeshop auf der Ehrenstraße, Kölns hipster Modemeile. Davor hat sie bei einem Plattenlabel in Berlin gearbeitet. Sie geht viel aus, vor allem in Ehrenfeld. Der Hauptstadt trauert sie kaum nach. »Ich habe hier sehr schnell Freunde gefunden,« sagt sie beim Kaffee im »Weltempfänger«, einer Mischung aus Restaurant, Bar und Hostel. »Köln hat das Gleiche zu bieten wie Berlin, und das viel zentrierter.« Bei aller Liebe zum Rheinland – ist das nicht ein bisschen übertrieben? Schwarz schüttelt den Kopf. Das Überangebot in der Hauptstadt habe sie frustriert. »Das kann man unmöglich alles wahrnehmen. Und so konzentrierst Du Dich am Ende auf immer dieselben Sachen.« Menschlich habe sie Berlin runtergezogen. »Da herrscht so eine Egal-Stimmung, anders als hier.«
Mit »hier« meint sie Köln, aber es könnte auch dieser Mikrokosmos sein. Die Stimmung im Weltempfänger ist so entspannt, wie sie der ganzen Stadt nachgesagt wird. Am Nebentisch sitzt eine junge Familie beim Schokokuchen, während das dazu gehörige Kind mit dem Tretroller durch den Laden saust. Niemand stört sich daran, dass wir Bilder schießen, und es vergeht keine halbe Stunde, bis uns der Wirt einen Schnaps ausgibt. Der Mann heißt Roland Sachs, das Getränk »Gärtner«. Es ist seine eigene Erfindung. 49 Kräuter sind in dem Schnaps, darunter Exotika wie Eibischwurzel und Vogelknöterich, die irgendwie nach Harry Potter klingen. An der Rezeptur hat Sachs jahrelang rumprobiert, die »Zwischenergebnisse« haben seine Stammgästen bereitwillig ausprobiert. »Manche Zutaten haben wir schnell wieder verworfen, die waren einfach zu krass.« Unsere Tischnachbarin nickt wissend: »Hmm-hmm. Die Lauchzwiebel, zum Beispiel.« Bevor er Familienvater wurde, hat Sachs jahrelang einen zweiten Laden betrieben, die »Hängenden Gärten.« Es gibt ihn heute noch. Schwarz sagt, diese Kneipe sei ein Muss in Ehrenfeld.
Die Hängenden Gärten liegen an der Vogelsanger Straße, in dieser Gegend ballen sich am Wochenende die Partys und Konzerte. Zur alteingesessenen »Live Music Hall« sind in den letzten Jahren noch die »Werkstatt«, der »Sensor-Club« und die »Papierfabrik« hinzugekommen. Besonders letztere hat Ehrenfeld einen enormen Hipness-Schub verpasst. Das Programm ist undogmatisch – von Reggae bis Techno wird hier so ziemlich alles gespielt. Vielleicht hat der Club seine Popularität auch noch einem anderen Faktor zu verdanken – der begrenzten Halbwertzeit. Der Clubbetrieb war eine Übergangslösung, das Gebäude wird im April abgerissen, genau wie der »Sensor«. Wenn alles schiefgeht, errichten sie auf dem Gelände eine Mall. Zum Bebauungskonzept gab es vor kurzem eine Bürgeranhörung. Bei dem Gedanken an die Veranstaltung muss Anna Harbord schmunzeln.
Die Barfrau der Hängenden Gärten sitzt hinter einem Mühlen-Kölsch, über ihrem Kopf wächst ein umgedrehtes Blumenbeet aus der Decke. Dass Harbord heute nicht auf der anderen Seite des Tresens steht, ist Zufall. Sie arbeitet fünf Tage die Woche hier, wenn sie nicht gerade Bands auf Tour begleitet. Wir fragen sie nach der Bürgeranhörung, nach ihrer Begegnung mit den holländischen Investoren. Die Geschichte ist unfreiwillig komisch. »Die Planer haben versucht, den Anwohnern das Einkaufszentrum als Kultur-Highlight zu verkaufen. Der Vortrag war ziemlich wirr. Da war die Rede von einem ›Zentrum für neue Musik‹, während im Hintergrund das Bild von einem Cello-Quintett gezeigt wurde. Beim Thema ›Begrünung‹ sah man als Motiv einen Rewe-Markt mit Blumenstand.« Dann wurde eine Umfrage zitiert. Ehrenfeld brauche einen »Saturn«, stand darin. 22.000 Quadratmeter Verkaufsfäche soll die neue Mall bieten. Das sind nur 3000 weniger als die ganze Venloer Straße hat.
Die Situation in Ehrenfeld ist auf den ersten Blick symptomatisch für viele (einstige) In-Quartiere der Republik – vom Schanzenviertel in Hamburg bis zum Prenzlauer Berg in Berlin. Günstige Mieten ziehen Künstler und Kreative in bis dato unspektakuläre Gegenden, das Nachtleben beginnt zu boomen, Clubs und Bars eröffnen – und am Ende kommen die Stadtentwickler. Der Unterschied in Köln scheint die größere Pragmatik der Anwohner zu sein. Harbord will kein Einkaufszentrum, sie würde sich aber auch nicht an die Papierfabrik ketten, um den Abriss zu verhindern. »Dass Stadtteile ihr Gesicht verändern, ist normal.« Man könne ja immer noch umziehen in der Stadt. »Ich würde sogar nach Kalk ziehen,« sagt Harbord lachend, »wenn das nicht auf der ›schääl sick‹ liegen würde.«
Im Moment besteht noch kein Grund zum Umzug. So beliebt Sensor und Papierfabrik auch sein mögen – Ehrenfeld wird auch ohne sie nicht zur Wüste. Wer das überprüfen will, braucht sich nur 500 Meter weiter vor die »Werkstatt« zu stellen – idealerweise, wenn dort die »Trashpop«-Party läuft. Einen größeren Andrang sieht man in Köln derzeit kaum. Das musikalische Konzept ist einfach: Gespielt wird alles, was die Geschmackspolizei normalerweise verbietet – Eurodance, 80er-Hardrock, Schlager, Phil Collins.
»Ich geh da auch manchmal hin und feiere auf die schlimmsten Stücke«, sagt Schwarz. »Die Schlangen bei der Trashpop-Party reichen manchmal bis hier hin.« Sie zeigt aus dem Fenster. Wir sitzen inzwischen unweit der Werkstatt, im »Underground«. Der Club gehört zu den traditionsreichsten Konzertbühnen der Stadt. Heute steht eine HipHop-Show an. Während wir am Tresen über den Musikstandort Ehrenfeld sprechen, läuft ein Rapper im »Hoodie« durchs Bild. Er hat die Kapuze über den Kopf gezogen, darüber klemmt ein riesiger Kopfhörer. Es sieht cool und albern gleichzeitig aus. Im Underground ist HipHop eher die Ausnahme, normalerweise ist das hier eher ein Rock- und Punkladen, ähnlich wie der »Sonic Ballroom« um die Ecke.
Ansonsten geht es im Viertel musikalisch ausgesprochen tolerant zu. Das beste Beispiel liefert der »Bahnhof Ehrenfeld«, eine Gewölbehalle direkt unter den Gleisen. Wahrscheinlich fasst kein Club das Viertel so zusammen wie dieser. Neben Partys und Konzerten finden hier auch Poetry Slams, Lesungen, Ausstellungen und sogar ein »Veedel-Bingo« statt. Im Gegensatz zur rohen Papierfabrik wirkt der Bahnhof Ehrenfeld erstaunlich schick – von Tunnel-Rave keine Spur. Selbst das Graffito am Eingang ist legal und Teil der Deko. Vielleicht ist das die Zukunft: kanalisierter Underground. Nicht unbedingt aufregend, aber langlebig.
Weltempfänger, Venloer Str. 196
Die hängenden Gärten von Ehrenfeld, Vogelsanger Str. 140Underground, Vogelsanger Str. 200
Sonic Ballroom, Oskar-Jäger-Str. 190
Werkstatt, Grüner Weg 1bClub Bahnhof Ehrenfeld, Bartholomäus-Schink-Str. 65/67
Papierfabrik, Grüner Weg 6
Sensor, Grüner Weg 6