Ein bisschen war es so wie in einem Theaterfoyer. Wie auf einem Platz, auf dem einem manche Menschen sofort auffallen. Obwohl man nur kurz an ihnen vorbeigeht. Auch unter diesen Bildern, die der Foto- und Street Art-Künstler JR an die Fassade des Festspielhauses in Recklinghausen brachte, gab es einige mit besonderer Ausstrahlung. Der ältere Herr mit dem schwarzen Zylinder etwa blieb direkt im Gedächtnis oder diese junge Frau, die der Kamera einen dicken Kuss zu geben schien. Auf dem grünen Hügel von Recklinghausen kamen 2020 Menschen aus allen Bereichen des Lebens und aus allen Altersgruppen zusammen, vom Kleinkind bis zur Seniorin.
Die riesige Installation aus Schwarz-Weiß-Porträts passte wunderbar zu Deutschlands ältestem Theaterfestival, das immer auch ein Fest für die Bürger Recklinghausens und des Ruhrgebiets ist. Rund 80.000 Menschen machen es jedes Jahr zu einem der besucherstärksten Theaterevents in Europa. 800 Selfies zeigte die Glasfassade des Festspielhauses. Nur ein Bruchteil des sonstigen Publikumsverkehrs – und dennoch in Corona-Zeiten ein starkes Signal. Denn JRs »Inside Out Project« versammelte nach einem Zufallsprinzip die Gesichter von Künstlern und Publikum, von Bürgern und Entscheidungsträgern. Das Neben- und Miteinander – es hat in Recklinghausen gute Tradition. »Ich kann mir eine neue und andere Art von Festspielen vorstellen«, hatte im Sommer 1947 der damalige Hamburger Oberbürgermeister Max Brauer vor den versammelten Arbeitern der Recklinghäuser Zeche »König Ludwig« verkündet: »Festspiele nicht nur für Literaten und Auserwählte, sondern Festspiele inmitten der Stätten harter Arbeit. Ja, Festspiele im Kohlenpott vor den Kumpels. Ja, Festspiele statt in Salzburg in Recklinghausen.«
Kunst gegen Kohle
Noch immer ist es üblich, dass nach der Programmvorstellung der Ruhrfestspiele Betriebsräte aus ganz Deutschland tagen – und danach Karten für ihre Betriebe ordern. Einer von zwei Gesellschaftern ist der Deutsche Gewerkschaftsbund. Und die Ansprache im Jahr 1947 so etwas wie die Geburtsstunde des Großevents, das seither immer am 1. Mai mit einem großen Kulturfest eröffnet wird. Weil die Hamburger Bühnen im kalten Nachkriegswinter 1946/47 kein Brennmaterial mehr für ihre Häuser hatten, schickten sie LKWs ins Ruhrgebiet. Die erste Zeche am Weg war »König Ludwig« in Recklinghausen, deren Kumpels ohne Genehmigung der britischen Militärpolizei die LKWs beluden – und den Hamburger Spielbetrieb damit sicherten. Im Gegenzug gaben die Hamburger Bühnen im Sommer 1947 mehrere Gastspiele im Revier: Kunst für Kohle.
Ein Gegenentwurf zu den Salzburger Festspielen ist das Recklinghäuser Theaterevent noch immer. Was aber nicht heißt, dass es sich qualitativ hinter dem berühmten Festival verstecken müsste. Im Laufe der Jahre haben alle großen deutschsprachigen Bühnen und renommierten internationalen Häuser hier gastiert. Legendäre Aufführungen wie Peter Zadeks »Lulu« mit Susanne Lothar in der Titelrolle oder Frank Castorfs »Räuber« waren auf dem grünen Hügel zu sehen.
»Mein Ideal ist es, einen Weg zu finden, der innovative zeitgenössische Kunst mit einer hohen Breitenwirksamkeit in Einklang bringt«, sagt Intendant Olaf Kröck, der neben klassischen Schauspielinszenierungen auch Performances freier Gruppen, Tanz-, Kinder-, Jugendtheater und Kabarett präsentiert. Das Festival soll so divers wie sein Publikum sein – und die Region. Dazu gehört auch der Neue Zirkus, den Kröck eine »Überwältigungsmaschinerie« nennt, in der so vieles erzählt werden kann. In einer Sprache, die alle verstehen: die der darstellenden Kunst.
1. Mai bis Mitte Juni 2021.