Er steht schon auf dem Parkplatz vor der Schule. Mit Krawatte und Mundschutz erwartet Laurenz van der Linde seinen Besuch zur Führung durch die Klosterbibliothek. »Den Zeitbedarf bestimmen Sie«, hatte er in der E-Mail geschrieben. Und gleich ergänzt, dass Gaesdonck 6000 Bände aus der Zeit bis zum 18. Jahrhundert bewahrt, darunter rund 200 Inkunabeln, wie man die Drucke aus der Frühzeit zwischen 1450 und 1500 nennt. Jede Menge Stoff also. Vor einigen Wochen erst war dieser Schatz durch die Medien gegangen, zusammen mit seinem Hüter, van der Linde: 90-jähriger Archivar entdeckt in alten Büchern zwei Holzschnitte von Dürer. So oder so ähnlich wurde die »kleine Sensation« kundgetan.
Das hat neugierig gemacht. Und so ist man hergekommen, nach Gaesdonck, einen Ortsteil von Goch, direkt an der niederländischen Grenze. Ins einstige Kloster der Augustinerchorherren, wo seit 171 Jahren das bischöfliche Internatsgymnasium »Collegium Augustinianum Gaesdonck« mit einigen 100 Schülern logiert. Offenbar sind gerade alle in den Klassen. Denn es ist ganz ruhig beim Weg zur alten Klosteranlage.
Er war einmal Direktor hier. Erst seit der Pensionierung vor bald 30 Jahren zieht es van der Linde so sehr in die Gewölbe oberhalb des gotischen Kreuzgangs, wo bereits die Chorherren ihre Bibliothek untergebracht hatten. Nun geht es zur steilen Treppe: Fünfmal am Tag hier hinauf sei wie einmal Fitness-Studio, bemerkt van der Linde, kaum außer Atem, bevor er das elektronische Schließsystem bedient und die uralte Holztür öffnet. Ein stimmungsvoller Ort: Auf der einen Seite des langen, kreuzgratgewölbten Raumes fällt der Blick durch leicht getönte Fenster in den grünen Hof. Auf der anderen reihen sich in spitzbogigen Wandnischen die Bücher.
Van der Lindes Welt: Immer wieder führt er Besucher durch die Bibliothek und startet auf eigene Faust Veröffentlichungen zu den Schätzen von Gaesdonck. Nachdem die Bestände vor zehn Jahren in der Diözesanbibliothek in Münster waren, um dort katalogisiert und neu signiert zu werden, hat er sie Stück für Stück wieder einsortiert und die Standorte verzeichnet. Es gibt wahrscheinlich kein Buch, das van der Linde noch nicht in den Händen hielt.
Inzwischen hat er die weißen Handschuhe übergestreift und mit einem sicheren Griff einen jener Bände herausgezogen, von denen alle reden. Es sind Schriften des französischen Theologen und Kanzlers der Universität Sorbonne in Paris, Johannes Gerson (1363-1429). Die Frontispize in den beiden Gaesdoncker Gerson-Büchern seien etwas ganz Besonderes, so van der Linde. In der Regel verzichteten die Inkunabeln auf solch einen Bildertitel. Diese hier zeigen einen bärtigen Pilger mit Stab und Wappen, ein Hündchen im Gefolge. Weil der Name Gerson wie das hebräische Wort für Ankömmling klinge, sei der Theologe als Pilger dargestellt worden – verschiedentlich auch von Dürer, der ihn hier in der Landschaft zeigt, dahinter die Türme und Tore einer Stadt.
Der unsignierte Holzschnitt müsse wohl vom jungen Albrecht Dürer (1471-1528) stammen, so der Archivar. Zuletzt waren wiederholt ähnliche und identische Drucke in Auktionen aufgetaucht und sind von Experten Dürer zugeschrieben worden. Triumphierend hält van der Linde einen Katalog des Berliner Auktionshauses Bassenge hoch: auf dem Cover der Gaesdoncker Pilger. Ein Werk des Wunderkinds. Entstanden lange bevor Dürer sein berühmtes Monogramm-Markenzeichen erfand. Und lange auch bevor er mit seinem Apokalypse-Zyklus den Holzschnitt revolutionierte und europaweit Karriere machte.
Dürer war sehr früh eingestiegen ins Geschäft mit der gedruckten Buchkunst. Dabei half gewiss der prominente Patenonkel: Anton Koberg war immerhin der damals führende Verleger und Drucker in Nürnberg. Ein wirklich mächtiger Medienmann, dessen 1472 gegründete Werkstatt rasch zum international agierenden Großunternehmen aufstieg. In Gaesdonck stehen immerhin 40 Bücher aus Kobergs Produktion.
Wenn man nun van der Linde zuhört, so scheint ihn mehr noch als die großen Namen, Koberg und Dürer, das kleine Zeichen auf dem Wappen des Pilgers zu begeistern. Kein Zweifel, das sei ein Tau, der letzte Buchstabe des hebräischen Alphabets, den Gerson als Zeichen der geistigen Erhebung verstanden habe. Genau so sei auch das von den Augustinern übernommene Zeichen im Gaesdoncker Schulwappen zu interpretieren. Man habe lange gerätselt über die Bedeutung dieses T-Kreuzes, deshalb ist van der Linde so froh über seine Entdeckung.
20 Jahre lang war er Direktor des Internats. Unterrichtet hat van der Linde Mathematik, Physik und Philosophie. Eher hätte man auf Latein getippt. Doch das hat er aus reiner Liebhaberei zur Perfektion getrieben. Seit Messdienertagen pflege er diese Passion, was dem Archivar nun beim Schmökern sehr zugute kommt. Aus dem Stand übersetzt van der Linde die lateinischen Texte, die ihm so viel verraten über die Zeit, das Kloster und die literarischen Gewohnheiten der Augustinerchorherren, die den Gaesdoncker Bücherfundus einst begründet haben.
Als sie um 1400 hierher kamen, schrieben die Mönche ihre Bücher noch von Hand – für sich selbst, aber auch im Auftrag. Zum Beispiel für die Gemeinde Genepp, die einmal ein Messbuch brauchte. Zwei Mönche dürften wohl ein Jahr daran gesessen haben, schätzt van der Linde. Zum Lohn bekamen sie nicht wie üblich Malter, Roggen oder Hafer, sondern Mautfreiheit auf Lebenszeit. Fortan durften sie alle Wege und Brücken in Genepp kostenfrei benutzen, zu Fuß oder zu Pferd, sogar eine Kuh an der Kette konnte mitgeführt werden.
Mit Johannes Gutenberg und seiner revolutionären Erfindung des Buchdrucks mittels beweglicher Metalllettern wurde die Schreiberei in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunehmend unrentabel. Das Angebot wuchs, und die Gaesdoncker Mönche griffen nach Gedrucktem. Vor allem mit Predigtsammlungen deckten sie sich nun ein – eine echte Erleichterung für die Brüder, die sich nicht ständig selbst etwas Neues für die Messe ausdenken wollten. Rund die Hälfte der Gaesdoncker Inkunabeln enthalten solche Sammlungen. Im Regal stehen zwei dicke, in Schweinsleder gebundene Exemplare mit 1380 Predigten – allein sieben für den ersten Advent.
Doch das reizt van der Linde wenig. Lieber liest er in den Schriften des erwähnten Gerson, der als Cheftheologe auf den Konzilien von Pisa und Konstanz auftrat. Seine gelehrten Werke und Predigten füllen ein ganzes Bibliotheksregal. Auch das 1483 gedruckte Lexikon von Bartholomaeus Angelicus (1190-1250) schlägt van der Linde gerne auf, um aus dem Inhaltsverzeichnis vorzulesen: Alle bekannten Krankheiten sind dort aufgeführt und jeder Himmelskörper. Die Zeiten, Materie und Form, das Wetter, die Vögel, das Wasser, Geografie, die Provinzen der Erde, Pflanzen Tiere. Daneben erfährt der Landwirt, welche Ochsenrasse er am besten zum Pflügen einsetzt.
Einiges Interesse hegten die Mönche offenbar auch an geschichtlichen Themen. Ein stolzer Band in der Bibliothek fasst gleich drei Kirchen- und Weltgeschichten, die der Auftraggeber wohl aus Ersparnisgründen zusammen hat binden lassen. So lief das damals, wie der Archivar weiß: »Wenn jemand ein Buch brauchte, dann besorgte er sich Pergamentblätter oder solche aus Papier, bezogen aus China, dann aus Italien und später auch aus dem eigenen Lande.« Er gab das Buch in Auftrag, wenn es etwas teuer werden durfte sogar mit Bildern, die oft nachträglich von Hand gemalt wurden. Auch davon bietet die Klosterbibliothek ein schönes Beispiel.
Ein weniger erfreuliches Kapitel der Klostergeschichte deutet sich mit Blick auf ein dick durchlöchertes Buch an – ein Granatsplitter war durch die Seiten geschlagen. Überhaupt hat das Kloster schwer gelitten im Zweiten Weltkrieg, nicht wenige Bücher gingen damals verloren. Andere haben kaum reparable Schimmelschäden, weil sie zu lang im Regen lagen. Keiner darf hinein in den Raum, wo sie ruhen, und niemand weiß, was mit ihnen geschehen soll, so van der Linde, der die ganze Zeit über stehend erzählt hat und sich nun zum Abschluss bei seinen Zuhörern bedankt. Weil sie ihm so lange gelauscht haben. Jetzt könne er beruhigt nach Hause gehen – ohne das ärgerliche Gefühl, etwas Wichtiges ausgelassen zu haben.
Nach individueller Absprache ist der Zugang zur Bibliothek möglich.
Ansprechpartner sind Josef Böhmer und Jörg Baden: boehmer@gaesdonck.de