TEXT: ANDREAS WILINK
Worauf will das bloß hinaus?, fragt man sich die ersten zwanzig Minuten, bevor das Schicksal mit Wucht ein Leben von Grund auf verändert. Zuerst lernen wir einen jungen Mann, Ali, kennen, der widerwillig seinen fünfjährigen Sohn Sam anvertraut bekommt und ihn zu seiner älteren Schwester verfrachtet, die an der Cote d’Azur, aber sonst nicht auf der Sonnenseite lebt – sie arbeitet als Kassiererin, ihr Mann fährt Lastwagen. Ali braucht einen Job, wie so oft, heuert als Rausschmeißer einer Disco an und bringt eines Nachts Stéphanie heim, nachdem die Opfer einer Schlägerei geworden war. Vielleicht finden die beiden Gefallen aneinander – jedenfalls lässt er ihr seine Telefonnummer da. Das war’s erst mal. Oder könnte es gewesen sein. Dann wird Stéphanie während der Dressurschau im Marineland als Animateurin von einem der Wale, der auf die Bühnenplattform flatscht, schwer verletzt. Beide Beine unterhalb der Knie müssen amputiert werden. Wie Marion Cotillard in halber Bewusstlosigkeit nach der Operation liegt, die Stimmen der Außenwelt ausschaltet, Kontakt verweigert, sich ein Seziermesser greift, um – ja, was? – erfasst den Schock, dass nichts mehr ist wie zuvor. Stéphanie wollte immer gefallen, erregen, verführen, ihren Körper beim Tanzen fühlen – auf die sexuelle Praxis kam es ihr nicht so an. Sie ruft Ali (Matthias Schoenaerts) an, der sonst ein ziemliches Arschloch ist, fahrlässig mit anderen und ignorant, mittlerweile mit einem Typen illegal Überwachungskameras installiert, hauptsächlich fürs Boxen trainiert und auch den Sex sportlich nimmt. Aber gerade seine schnöde Art ist für Stéphanie richtig, er bringt sie sogar dazu, ihre abgedunkelte Wohnung zu verlassen, mit an den Strand zu kommen und im Meer zu schwimmen. Auch schlafen sie miteinander, gewissermaßen auf Probe, weil sie testen will, ob da überhaupt noch was geht. Ali reagiert professionell.
Stéphanie werden Prothesen angepasst. Aber die Verletzung sitzt tiefer, als dass künstliche Gelenke das korrigieren könnten. Mit dem Stolz einer Amazone stellt sie sich, nur ihre Augen sagen etwas anders, als sie in der Disco die Gesunden tanzen sieht – auch Ali mit irgendeiner Blondine. Aber von ihm Verantwortung zu verlangen und Gefühl, gar Feingefühl einzufordern, funktioniert nicht. Oder erst, als noch etwas Schlimmes passiert und eine weitere Bruchstelle erfolgt. Auf der Emotions-Skala von Eins bis Zehn erreicht Jacques Audiards physisch brutal intensiver und zärtlicher Film eine glatte Neun. Eine Lektion aus der Schule der Liebe.
»Der Geschmack von Rost und Knochen«; Regie: Jacques Audiard; Darsteller: Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts, Armand Verdure, Corinne Masiero; Frankreich/Belgien 2012, 120 Min.; Start: 10. Januar 2013.