Kai Pfaffenbach wischt in der Foto-App seines Smartphones. »Das hier sind Fotos direkt aus dem Schützengraben«, sagt er. »Die Russen waren nur wenige hundert Meter entfernt. Und hier: eine verletzte Zivilistin, die seit Monaten ohne Wasser und Strom lebt.« Er wischt weiter. »Hier entsorgen die Ukrainer ihre Toten auf einem LKW.« Pfaffenbach arbeitet für die Nachrichtenagentur Reuters. Er kommt gerade aus Bachmut – ein international tätiger Fotograf, ausgezeichnet mit dem US-amerikanischen Pulitzer-Preis, dem »Oscar« für Journalisten.
Nun steht er im »Tilly-Haus«, einem frisch renovierten Fachwerkhaus der Weserrenaissance, errichtet im frühen 17. Jahrhundert als Teil eines Adelshofes mitten in Höxter, einer Kleinstadt in Ostwestfalen. Graf von Tilly, einer der wichtigsten militärischen Führer des Dreißigjährigen Krieges, soll hier einmal übernachtet haben. Pfaffenbach wischt weiter. Ein Soldat im Moment des Schusses, gestochen scharf sieht man die Patronenhülsen fliegen. Betroffen schaut eine Frau neben Pfaffenbach auf sein Display. »Deine Bilder aus der Ukraine, die sollten hier demnächst auch hängen«, sagt sie.
Christine Longère ist die Vorsitzende des Vereins Forum Anja Niedringhaus, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Erinnerung an die berühmte Tochter der Stadt zu bewahren und ihr Vermächtnis weiterzutragen. Im Alter von 48 Jahren wurde die Journalistin in Khost, einer Stadt im Osten Afghanistans, von einem Polizisten erschossen, ein Tag vor den afghanischen Präsidentschaftswahlen – eine Amoktat, mit der der Attentäter nach eigenen Angaben den Tod seiner Angehörigen rächen wollte, die bei einem NATO-Bombardement ums Leben kamen. Anja Niedringhaus war sofort tot.
Die Canon-Kamera, die sie an jenem Tag bei sich hatte, liegt nun in einer Vitrine. Sie ist Teil einer Ausstellung, mit der das Forum Anja Niedringhaus, kurz FAN, eröffnet. Der Kurator Muhammed Muheisen, ebenfalls ein vielfach ausgezeichneter Fotograf, hat 35 ikonische Bilder seiner Freundin und Kollegin ausgewählt – und dafür zehntausende Fotos gesichtet. Unbeschriftet, für sich sprechend hängen sie an den grau verputzten Wänden, die Daten und Hintergründe zu den Fotos entnimmt man einem Faltblatt. Es ist die erste Ausstellung, die Muheisen ausrichtet. Eine große Ehre sei das für ihn, aber auch eine große Herausforderung, sagt er.
Das letzte, was ein Fotograf will, ist ja, dass jemand anderer eine Auswahl über die eigenen Bilder trifft. Ich habe versucht, wie Anja zu sehen, zu fühlen und zu denken.
Muhammed Muheisen, Fotograf und Kurator
Die Bilder, die Muheisen ausgewählt hat, stammen aus den Jahren 1995 bis 2014, sie entstanden mitten in Krisenherden und Kriegen überall auf der Welt. Der Ausstellungsraum im Erdgeschoss zeigt Fotos vom Leben der Soldaten, der im Obergeschoss Zivilisten im Krieg.
»Mitten im größten Chaos, in Krieg und Zerstörung, suchte Anja nach der menschlichen Seite«, sagt Muheisen, »man sieht ihren Arbeiten an, wie vertraut sie mit den Menschen war. Jedes ihrer Bilder erzählt eine Geschichte. Ich möchte mit der Ausstellung neugierig auf Anja machen.« Ausgewählt hat er Fotos, mit denen die Fotografin berühmt und für die sie ausgezeichnet wurde – etwa jenes vom US-Marine im Irak, der in seinem Rucksack eine Soldatenpuppe als Maskottchen trägt, oder von US-Präsident George W. Bush, der an Thanksgiving in Bagdad US-Soldaten einen Truthahn auf einem Tablett serviert. Vor allem aber sind es Fotos, die den Betrachter unmittelbar anziehen und so schnell nicht loslassen. Die afghanische Frau, die eine Burka anprobiert und dabei mit dem Vorhang der Umkleidekabine quasi eins wird. Der afghanische Vater, der mit fünf Kindern auf seinem Motorroller unterwegs ist. Der alte Mann in Sarajevo, der in einem komplett zerstörten Bus sitzt, raucht und einen Regenschirm umklammert.
Auch Wolfgang Beltracchi stammt aus Höxter, jener Maler, der mit gekonnt gefälschten Kunstwerken Millionen ergaunerte: Er schuf Bilder im Stil berühmter Maler, die diese jedoch nie gemalt hatten. »Fake News« wären das im Journalismus, gefälschte Nachrichten. Anja Niedringhaus stand dagegen für »The Power of Facts« – so der Titel der Ausstellung, die nun bis mindestens Herbst im ihr gewidmeten Forum zu sehen ist. Auch die nächsten Ausstellungen werde er kuratieren, sagt Muhammed Muheisen, »vielleicht wird es eine Kombination aus ihren Fotos und Bildern junger Talente.«
Vielleicht werden es aber auch die Ukraine-Bilder von Kai Pfaffenbach, oder aber die Fotos der Träger des Anja-Niedringhaus-Preises, der inzwischen jährlich vergeben wird, oder auch die bislang eher selten gezeigten Sportbilder der Fotografin. Ideen gibt es viele, ein kuratorisches Konzept und eine langfristige Ausstellungsplanung (noch) nicht. Das hat zwei Gründe: Zum einen hat das frisch eröffnete Forum Anja Niedringhaus keinen künstlerischen Leiter. Getragen wird das Haus von einem sehr rührigen Verein, der es binnen sechs Jahren in Eigenregie geschafft hat, 1,3 Millionen Euro an Fördermitteln für die Renovierung des denkmalgeschützten Hauses zu akquirieren. Rund 130 Mitglieder hat der Verein, rund 50 Helferinnen und Helfer haben sich dazu bereit erklärt, den Betrieb des Hauses ehrenamtlich zu unterstützen. »Wir haben keine Mittel, um jemanden hauptamtlich zu beschäftigen«, sagt Vorsitzende Christine Longère. Sie war Kulturredakteurin der örtlichen Zeitung, die Anja Niedringhaus ihre ersten Fotos abkaufte. Ihr Vorstandskollege: ein Lehrer der Verstorbenen.
Der andere Grund lautet: Das FAN versteht sich nicht als reiner Ausstellungsort, sondern will »ihr Vermächtnis weitertragen«. Von diesem Vermächtnis, der »legacy« ist viel die Rede bei der Eröffnung. Dabei wird deutlich, dass ein gemeinsames Verständnis davon, was genau das eigentlich bedeutet, noch fehlt.
»Die Räume sollen zu einem Ort der Begegnung werden, der sich den Themen Fotografie, Wirkungsmacht von Bildern, Pressefreiheit und der Rolle von Medien bei Konflikten, Kriegen, Katastrophen widmet«, heißt es in der Pressemitteilung. Im Flyer ist die Rede davon, dass das Forum »die Heimat des Fotojournalismus, der Dokumentarfotografie und der Kultur« sein soll. Auf der Webseite liest man von »Veranstaltungen, die zur künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ursachen und Folgen von Krisen, Konflikten und Kriegen, von Flucht und Migration anregen.« Der Trägerverein wiederum nennt sich »Verein für journalistische und künstlerische Fotografie« und beschreibt seinen Satzungszweck damit, einen »Kulturort für zeitgenössische Fotografie« zu schaffen.
Das Veranstaltungsprogramm bildet diese Bandbreite ab: Es gibt im Tilly-Haus im Juni eine Podiumsdiskussion zur Zukunft der klassischen Kriegsfotografie angesichts der Omnipräsenz sozialer Medien – und, anlässlich der Landesgartenschau, einen Workshop »Macros mit dem Smartphone«. Die Richtung ist also klar, nur das genaue Ziel noch nicht – doch erst einmal ist man in Höxter heilfroh, dass das FAN nach Jahren der Vorbereitung eröffnet ist und das historische Tilly-Haus nun mit dem benachbarten Forum Jacob Pins, gewidmet einem jüdischen Künstler der Stadt, eine Art Kulturquartier bildet. Ein Beirat aus Wissenschaftlern, Kuratoren, Fotografen und Familienmitgliedern wird die Arbeit des FAN begleiten.