TEXT: ALEXANDRA WACH
Myriaden hervorgehobener Schlagzeilen können nicht irren. Das Abendland ist längst abgebrannt. Die Gefühle sind entblößt, die menschliche Existenz eine Sturzflut aus Zuckungen, Elend und Irrsinnsausbrüchen. Zumindest in den Straßen von London, wo sich die auf Sex und Gewalt fixierte Zeitungsbranche beim Boxkampf um Marktanteile in blutrünstigen Superlativen überbietet. Nicht nur illegal abgehörte Promis haben der Boulevardpresse inzwischen den Kampf angesagt. Selbst Künstler wählen The Sun und Konsorten neuerdings als Vehikel beißender Gesellschaftskritik. Die rund 70 »London Pictures« der seit Jahrzehnten unzertrennlichen Gilbert & George geben sich zwar erhaben über jede reglementierende Dramaturgie. Die Hängung ist eintönig, der Ton konstant schrill, auch wenn die fast durchgehend monumentalen Großformate mit ihrer dunklen Grundierung eigentlich Trauer tragen.
Sie spiegelt sich in den starren und bisweilen auch entsetzten Gesichtern des Seniorenpaars, das hinter den typografischen Großbuchstabenkolonnen mahnend auftaucht. Wie viel Abstumpfung ist nötig, um den tagtäglichen Horror für eine gewöhnliche Morgenlektüre halten zu können, scheinen sie sich zu fragen. Ihre geisterhaft schwebenden Körper stecken in gehäkelten Gardinen fest, oder in durch Autospiegel verzerrten Ziegelmauern. Die Hautfarbe oszilliert zwischen rosa und orange, Anzeichen dafür, dass die Herren einem Wachsfigurenkabinett entstammen könnten. Das ändert nichts daran, dass die Einwände dieser seltsam anachronistischen Zeitreisenden ins Mark unseres neuen alten Globalkapitalismus treffen, der selbst Nachrichten über die eigenen Kollateralschäden gewinnbringend unters Volk bringt. Dicht an dicht gereiht, erzählen die in der unteren rechten Ecke mit einem Siegel der Queen legitimierten Kurz-Epen vom Leben und Sterben in der Hochrisikozone all jener, die beim Verdrängungswettkampf auf der Strecke bleiben: von überforderten Krankenschwestern über Jugendliche aus prekären Verhältnissen bis zu renditehungrigen Bankern.
Die hohe Kunst der Collage gelingt dank einer ausgetüftelten Verfremdungsarbeit am Computer, die einzelne Elemente zu raffiniert kaleidos-kopischen Mosaiks vervielfacht. Die typischen schwarzen Rahmen, die man bereits aus früheren Tableaus kennt, verleihen den Stadtexkursionen eine feste Komposition, in der Rot und Weiß dominieren. Allerdings fehlt diesmal die an Kirchenfenster erinnernde Leuchtkraft des Ornaments.
LUST AM EXZESS
Wer die langgestreckten Ausstellungsräume des Museum Küppersmühle in der Absicht weltabgewandter Kunstmeditation betritt, bekommt es mit dem britischen Humor der aufklärerischen Sorte zu tun. Kaum ein Winkel, in dem nicht Werktitel wie »KNIFE MURDER«, »PORN«, »RACE« oder »BEATEN TO DEATH« den kulturpessimistischen Fluchtreflex auslösen. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass es den Verursachern des marktschreierischen Wirbels ernst ist mit ihrer Diagnose einer offenbar unstillbaren Lust am Exzess, die den latent kriminellen Zeitgenossen umtreibt. Die Bilanz seiner Taten ist jedenfalls vernichtend, selbst, wenn man die journalistische Übertreibungsmaschinerie subtrahiert.
Immerhin haben Gilbert & George sechs Jahre lang Material für ihr bisher umfangreichstes Werk gesammelt. In Duisburg gilt es, das 2011 abgeschlossene Mediendebakel zum ersten Mal in seiner Vollständigkeit zu bestaunen. Stolze 3712 Plakate, die mit reißerischen Trash-Slogans für den Kauf der Blattware warben, mussten dran glauben. Die 69 und 71 Jahre alten Provokateure haben sie schlicht in Kiosken mitgehen lassen. Während der eine zur Tat schritt, lenkte der andere mit dem Einkauf von Kaugummis ab. Jeden Neuzugang an den sogenannten Schürzen fotografierten sie ab und sortierten ihn nach thematischen Stichwörtern von »Accused« bis zu »Youth«. 292 Plakate fanden am Ende Einzug in den Zyklus.
Als politisches Statement sollte die Fleißarbeit nach Aussage der moralischen Beobachter allerdings nicht verstanden werden. Vielmehr zeige sie »Londons Pracht, Geheimnis und Drama« und schließe an die Porträts einer urbanen Lasterhölle aus der Feder von Charles Dickens an. Geht es den als »lebende Skulpturen« in die Kunstgeschichte eingegangenen Exzentrikern etwa lediglich um ein ästhetisches Problem? Eher um eine weitere wohlkalkulierte Irritation.
EIN SÜDTIROLER, EIN ENGLÄNDER
1967 lernten sie sich an der Londoner St. Martins School of Art kennen. Der Südtiroler Gilbert Proersch und George Passmore, ein Engländer aus Devon. Zwei Jahre später wurden ihre Kunstfiguren geboren, die konsequent Maßanzüge und Krawatten tragenden Gentlemen, die sich über jedes erdenkliche Tabu mit der unberührten Miene eines Buster Keaton hinwegsetzen. »Die Leute fanden das sehr clever. Dabei war es ganz einfach. Wir nannten es Skulptur, weil wir Skulptur studierten«, gaben sie später zu Protokoll.
Wie ihr Zeitgenosse Joseph Beuys verorteten sie die Quelle ihrer Kreativität von nun an in der eigenen Person. Während der Deutsche nach den ideologisch belasteten Anstößen der 68er-Bewegung im Ausleben der individuellen Freiheit den Weg zur Veränderung der Verhältnisse ausmachte, wählten Gilbert & George einen medienwirksamen Abgrenzungsschnitt. Sie stellten weder Fragen, noch wollten sie der Kunst etwas hinzufügen. Ihr Leben und ihre Partnerschaft sollten ihnen Stoff genug sein, ein genießerisches Dasein, das lediglich durch die lästigen Konventionen gestört wurde. Eine Verweigerung, die in dem immer noch revolutionär gestimmten Kunstbetrieb der frühen 70er einer Ohrfeige glich.
Sie nutzten alte und neue Medien, um über ihre Befindlichkeit zu berichten, schrieben Briefe, fotografierten, drehten Videos und griffen sogar zum Pinsel. Ein Wandmonitor am Eingang zur Ausstellung zeigt die jungen Männer, wie sie geduldig in einer Endlosschleife vor der Kamera ausharren, beschenkt mit überirdischer Melancholie. Einfache Verrichtungen wie Rauchen, Trinken und Spazierengehen erschienen ihnen relevant genug, um zu ritualhaften Handlungen stilisiert zu werden. Legendär ist ihr Umgang mit dem Mittel des Kontrasts. Den Aufstand übten sie in Gestalt von mit Metallicfarbe beschmierten Sänger-Dandys, die sich auf einem Drehtisch wälzten und einen Song über Obdachlose zum Besten gaben.
War die damals mehr als eigenwillige Position erstmal etabliert, erklärten die begnadeten Performer das ehemals heruntergekommene East End zu ihrer Spielwiese, ein sanierungsbedürftiger Stadtteil, in dem die zwielichtigen Straßen aus dem 18. Jahrhundert an all die früheren Ausgestoßenen und Verbrecher erinnerten – bis heute ihr Heimatbezirk, aus dem sie die Inspiration schöpfen. Das Lachen blieb dem Betrachter allerdings im Halse stecken angesichts der geballten Ladung sozialer Härte, die sich seit den 80er Jahren in den grellfarbigen Montagen manifestierte. Das Paar konfrontiere ihn mit Prostitution und Diskriminierung, den eigenen sexuellen Vorlieben samt diverser Körperflüssigkeiten, von Exkrementen bis zu Blut, und garnierte die autobiografischen Kommentare mit blasphemischen Entgleisungen.
G & G ALS MARKE
Eine Strategie der sich konformistisch verstellenden Subversion, die sich ausgezahlt hat. Die Documenta-Teilnehmer und Turner-Preis-Träger bespielten 2005 den Britischen Pavillon bei der 51. Venedig-Biennale, ließen ihre Retrospektiven durch die Welt touren – Moskau und Peking inklusive – und posierten vor den Leinwänden eines Gerhard Richter oder Andy Warhol. Sie erschufen eine wiedererkennbare Marke, die längst Kultstatus hat. Der verdankt sich nicht zuletzt einer leicht dechiffrierbaren Plakativität. In der Verbindung mit humanistischen Botschaften ist ihr Plädoyer für ein friedliches Zusammenleben in der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie stets willkommen.
Weil das Reservoir an privaten und zugleich kollektiven Sujets limitiert scheint, nehmen sich Gilbert & George neuerdings auffällig häufig der britischen Mentalität an. Zuletzt war es die blau-weiß-rote Nationalflagge, die in der Serie »Jack Freak Pictures« ins Visier ihrer Attacken geriet. Großbritannien, ein Land der freundlichen Freaks?
Eher der nie gelösten sozialen Traumata, die in den Schlagzeilen der Hauptstadt unfreiwillig die menschliche Natur anprangern. »Diese Plakate zeigen die westliche Welt in uns allen«, schreibt Gilbert im Katalog, »als ob man London nehmen und ein MRT durchführen würde. Und es ist auch ein universelles Tagebuch von London. Wir hatten immer das Gefühl, dass es eine Weile dauert, bis ein Thema, oder auch ein Gebäude, uns wirklich etwas sagt. Es kann auch Jahre dauern; aber dann ist es so, als ob diese Dinge lebendig werden und zu uns sprechen – und wir daraus Kunst machen können.«
Bis 30. Juni 2013. Museum Küppersmühle, Duisburg; Tel: 0203/301948-11. www.museum-kueppersmuehle.de