TEXT: ANDREAS WILINK
Wäre Dieter Giesing ein Billy Wilder, könnte Burghart Klaußner sein Jack Lemmon sein. Der 57-jährige Schauspieler entwickelt sich, seit er sich dem sogenannten Besten Alter annäherte, zum Jedermann: Abbild und Prototyp des sozialen und politischen Wandels der ausgewachsenen Bundesrepublik, ihrer Befindlichkeit und Zivilisation.
Parallel beschäftigt sich der Regisseur Giesing, Jahrgang 1934, im Laufe seiner vier Jahrzehnte am Theater in München, Hamburg, Wien, Zürich und gelegentlich in Bochum mit der Krise des bürgerlichen Subjekts in unterschiedlichen Kostümen – ob bei Sternheim, Bergman, Botho Strauß, Ayckbourn, Mamet oder, wie derzeit, bei Georges Feydeau.
Der Versuch, in Anwesenheit des einen (Regisseur) mit dem anderen (Schauspieler) zu reden, kann beginnen. Bestenfalls ergibt es einen Dialog zwischen zwei einander Vertrauten unter Beteiligung eines Dritten. Notfalls ein zähes Interview, bei dem der Fragende nie weiß, ob er den einen Befragten genügend integriert und der andere sich nicht trotzdem langweilt. Soviel nur: Giesing und Klaußner bereiten ihre allein am Bochumer Schauspielhaus bereits vierte gemeinsame Arbeit vor.
DER TYPUS DES IRGENDWO HINGEWORFENEN
Klaußner ist gewissermaßen der Krisen-Verwalter und Krisen-Geschüttelte eines aus dem Gleichgewicht kippenden saturierten Deutschlands. Der Typus, »der irgendwo hingeworfen wird und sehen muss, wie er klar kommt; Figuren, die autark sind oder es werden müssen«, beschreibt er es. Sein Björn Engholm in Heinrich Breloers Fernsehfilm, der ihn 1994 bei einem breiten Publikum bekannt machte, gehört dazu, als Beispiel eines Politikers, der »Einmal Macht und zurück« gebucht hat, aus dem Gleis geraten, aber persönlich doch nicht unter die Räder gekommen ist. Eine Vater-Figur ist er nicht, aber Väter hat Klaußner im letzten Jahrzehnt mehrfach gespielt. Zuletzt etwa in »Requiem«, wo er – selbst großartig neben der grandiosen Sandra Hüller und Imogen Kogge – als einfacher Handwerker, Ehemann, braver Katholik und liebender Vater, fromm, schlicht und aufrichtig, fassungslos mitansieht und in gutem Glauben zulässt, was mit seiner Tochter geschieht.
Aber es gab auch andere Väter – negative, total verständnislose wie in Wolfgang Beckers »Kinderspiele« von 1992, der laut Klaußner »Initialzündung« für einen ganzen deutschen Kinoaufbruch war. Oder auch in »Crazy« (wie »Requiem« von Hans-Christian Schmidt) und natürlich in Hans Weingartners »Die fetten Jahre sind vorbei«.
Dabei taugt er überhaupt nicht zum gesetzten Patron. Erwachsensein empfindet er »als höchst bedenklich«. Zwanzigjährige im Anzug habe er immer seltsam gefunden, Mitschüler, die Lehrer werden wollten, nie verstanden. Burghart Klaußner kommt aus Berlin, wo der von ihm als »wilhelminisch« charakterisierte Vater eine Kneipe auf der Grolmanstraße in Charlottenburg betrieb. Keine Brutstätte fürs Künstlerische. »Ich bin ein Selfmademan. Und musste es mir selbst beibringen, Künstler zu sein.« Deshalb beneide er Kollegen wie seine Partnerin Catrin Striebeck in Bochum, die aus familiärer Tradition mit der Kunst von früh an auf Du und Du stand. »Das beneidest du?«, wirft Dieter Giesing ein, mit undurchschaubarem Buddha-Lächeln und mildem Orakel-Blick.
FEYDEAU ALS EINE HOMMAGE AN KLAUSSNER
Giesing ist bei diesem Mal in Bochum Wiederholungstäter: 1967 hat er an den Münchner Kammerspielen mit Martin Benrath den »Floh im Ohr« inszeniert, Feydeaus Schwank, der vor genau 100 Jahren uraufgeführt wurde. Es brauche für ihn einen »Unzufriedenheitsfaktor«, um sich erneut mit einem Stück zu beschäftigen. Man unterschätzt Feydeau als Possenreißer, tat es in den politisierten Sechzigern wohl mehr noch als heute (»Theater ist Moden unterworfen in einem gespenstischen Sinn«, so Giesing), als die 68er mobil machten, um bald darauf den Weg durch die Instanzen anzutreten. Giesing erinnert sich, dass es damals keinen Normal-Alltag gab, auch nicht am Theater, wo man nie wusste, wann die Bühne besetzt oder geräumt wurde und Stickbomben in den Saal flogen. Sein jetzt zweiter Versuch mit dem Franzosen sei auch eine »Hommage an Klaußner«, dem er »totale Verführbarkeit« während der Arbeit und das Talent zum »großen Komiker« zuspricht. Eine Seite, die schon bei ihrer Erstbegegnung, 1992 in Zürich mit »Kalldeway Farce«, freigelegt wurde.
Vielleicht sind Verbindungen zwischen Feydeau, dem Salon-Sadisten der Belle Epoque, der sich blendend aufs Geschäft mit der Angst versteht, und unseren Tagen nicht auszuschließen. Auch nicht mit Blick aufs Klaußners Figuren-Repertoire. Er spielt in »Floh im Ohr« den Chandebise, Direktor einer Lebensversicherungs-Sozietät und vermeintlichen ehelichen Fremdgeher. Aber das Leben selbst ist – dort wie hier und eben nicht nur in der genial konstruierten Mechanik dieser Komödie – eine Lebensverunsicherungsanstalt. Klaußner sieht Chandebise als Menschen, »unfähig den Überblick zu bewahren, gefangen in großen Nöten und Zwangssituationen«. Die Orientierungslosigkeit, die blanke Panik, für die man keine Überlebensstrategie parat hat, den Widerstand der Natur gegen die Kultur – das erleben wir bei Feydeau wie im Schleudergang – und als fernen Widerhall. Man glaubt, alles im Griff zu haben, sich und die Welt. Es ging voran. Und dann auf einmal: Aus. Die fetten Jahre sind vorbei.
Giesing hört – wie stets bei dem Treffen – genau zu und bescheinigt Klaußner, überdies nicht zum einzigen Mal, es genau getroffen, eine schöne Formulierung gefunden zu haben. Um hinzuzufügen, als soziale Bestandaufnahme und persönliche Zustandsbeschreibung sei Feydeau schlichtweg zeitlos. Der Mangel an Gelassenheit sei uns doch ebenfalls vertraut. Zudem tritt, ohne analytische Aspekte überbewerten zu wollen, ein Sittenbild zu Tage: das einer von Besitzgier besessenen Gesellschaft, die rigoros einen der Ihren, wenn er versagt, abserviert und brandmarkt. Die 100 Jahre lassen sich also unschwer überbrücken.
Auf der Skala des Tempoanzeigers machen Giesing und Klaußner Fahrt. Nach ihren (schon unter Matthias Hartmanns Intendanz begonnenen) Bochumer Produktionen von Martin Crimp (»Auf dem Land«) über Jon Fosse (»Schönes«) zu Botho Strauß (»Die Zeit und das Zimmer«) dürfte ihr Feydeau vom Timing her enorme dramatische und dialogische Beschleunigung herstellen. Gilt doch Giesing in der Elastizität seines psychologisch-theatralen Nervensystems als Regisseur »glänzend organisierter Abläufe« (um den Benjamin Henrichs von 1972 zu bemühen). Ein Antrieb des Meisters – schreibt Klaußner in einem Beitrag für das Theatermagazin des Bochumer Schauspielhauses – sei »die Gegenwärtigkeit der Bühnenvorgänge und die Geistesgegenwart der Akteure«. Nebenbei, bemerkt Giesing, lässt sich noch eine weitere Verbindung all dieser Stücke und Autoren darin finden, dass »ihre Personen nicht über das reden, was für sie an Problemen existiert«.
Wie spielt man auf der Klaviatur der Geschwindigkeiten? »Indem man die Langsamkeit von innen mit Schnelligkeit auffüllt – oder umgekehrt: die Schnelligkeit von innen mit Langsamkeit aushöhlt.« Ein typischer Klaußner-Satz. Frappant. Originell. In seinem etwas kryptischen Wesen geradezu eine Überrumpelung. Und wiederum von Giesing aufmerksam registriert, bejaht und ergänzt, indem er sein bei jeden Proben mindestens zweimal vorgetragenes Credo zitiert, dass es immer auf die »through-line« ankomme, wie David Mamet es nenne. Man müsse schauen, in welchen Erregungszustand auf der Bühne etwas von allein, also ohne äußere Manipulation geraten könne.
Die präzise gedankenschnelle Formulierungskunst, die Klaußner offenbar liegt, hat er auf Herrn Hardenberg übertragen. Hardenberg, das war seine Rolle in Weingartners auch internationalem Kinoerfolg »Die fetten Jahre sind vorbei« – der Boss, der Bourgeois, das kapitale Feindbild mit Villa im Grunewald, der von drei jungen Leuten entführt wird. Und dann plötzlich anders ist, als das Trio dachte: mit linker Gesinnung und WG-Vergangenheit. Einer aus der Fischer-Fraktion. »Zur Überraschung eine sympathische Figur«, mit Charme, Humor, Leichtsinn, nicht ohne Durchtriebenheit und mit dem, was der Italiener Castiglione in seinem Höflings-Buch von 1561 sprezzatura nennt: Eleganz des beiläufig dargebotenen Kunststücks.
Klaußner, dessen schmale Lippen keineswegs auf geistige Schmallippigkeit deuten lassen, trägt die Maske der Leichtigkeit, die harte Arbeit bis zur Unscheinbarkeit verdeckt. »Vom Teutonischen hin zu etwas Weichherzigerem« habe sein Hardenberg sich entwickelt. Vielleicht sogar etwas entgegen der Intention des Drehbuchs, wie Klaußner anmerkt. Ein Vater-Ersatz halt, der nicht mehr getötet werden kann oder muss, sondern der sich frei spricht, auch wenn das Film-Finale mit dem Graffito »Manche Menschen ändern sich nicht« die Sache offen hält. Es gebe Zuschauer des Films, erzählt Klaußner, die wollten Hardenberg partout retten, nicht als Verräter und Helfer der Staatsgewalt dastehen lassen, sondern als trickreichen Komplizen des Trios Brühl, Erceg, Jentsch sehen. Jeder dreht sich halt seinen eigenen Film.
Die Charme-Offensive Hardenbergs hat mit der Intensität, Wachheit und Aufnahmelust zu tun, die Klaußner selbst ausstrahlt. Er ist jemand, der nachbohrt, nichts auf sich beruhen lässt, der die Dinge, Fragen, Worte hin- und herwendet, ihren Sinn abschmeckt und sich auf der Zunge zergehen lässt. Wie ein Test-Esser. Aber en passant, nicht penetrant, nicht besserwisserisch.
AUS DER ARBEIT KOMMT EIN WACHSTUMSHORMON
Vor kurzem hat er erstmals Regie geführt (in Hamburg bei Edward Albees »Die Ziege oder Wer ist Sylvia?«) und beherrscht nun die doppelte Optik, vor und auf der Bühne. Für den Schauspieler sei wichtig, sagt er, dass der Regisseur Vertrauen habe in dessen »Selbstreinigungsprozesse«, dass er kapiere, dass Kreativität nicht als reiner Willensakt zustande komme. (Giesing lobt wiederum diese Einsicht und Formulierung.) »Es gibt da ein Wachstumshormon, das sich aus der chemischen Verbindung während der gemeinsamen Arbeit entwickelt.« Klaußner, der unter anderem in Hamburg, Berlin und Zürich Theater gespielt hat, weiß, dass »Regie-Führen kein Flächen-Management« zu sein hat und dem Schauspieler »die Grenzen des Überblicks immanent sind«.
Wo Giesing, kultiviert, lässig, weltläufig, mehr erzählerisch, anekdotisch, nahezu gleichnishaft und pointiert Theatergeschichte zum Solo komprimiert, neigt Klaußner, gespannter und energiegeladen, zum Theoretischen. Auch wenn er über Eigenschaften, Eigenarten und Erfahrungen spricht, die sich teils in seinen Rollenfiguren, aber eben auch in seiner Biografie angesammelt haben. Von George Tabori, unter dessen Regie der Absolvent der Berliner Reinhardt-Schule debütierte, hat er den Ehrentitel für jeden Rebellen erhalten. »Always No« nannte ihn der Guru. Das Nein-Sagen musste sich dann mit den Jahren »abschleifen«. Der antiautoritäre Impetus, hat sich – abgesehen von den Klimabedingungen der Zeit – wohl auch in Klaußners Kinderstube, im Vaterhaus ausgebildet. Und es gehört zu Klaußner wie zu dieser Republik und ihren Eliten einer bestimmten Generation, dass ihnen eine – wie er es nennt – »vom Wilhelminismus geprägte Schizophrenie« eignet. Insofern, als Aufsässigkeit, anarchische Impulse und andere Modelle individueller und geistig beweglicher Unbotmäßigkeit irgendwann von der Einsicht in Notwendigkeiten und Forderungen des Tages durchädert werden. Plötzlich spürt man, wie man Druck ausübt, Prinzipien vertritt, Positionen durchsetzt, Argumente benutzt, wie einst die befehdete andere Seite.
Diese Widerspruchslinie müsse man nicht nur aushalten, man müsse sie genießen, sagt Burghart Klaußner mit souveräner Nonchalance: »Das hat man früher Dialektik genannt.«