Die Frau trägt ein Kleid, das man nur giftgrün nennen kann. Sie ist um die 50 und posiert vor einer Reihe ordentlich gepflanzter Stiefmütterchen. Klick. Auf dem nächsten Dia trägt die Frau ein gelbes Kostüm, diesmal vor Tulpen. Klick, Frau im Park, klick, Frau vor Rosen, klick, Frau mit Geranien. Dia für Dia taucht sie wieder auf, jene Dame, die für ihren Gatten beim Sonntagsausflug vor schätzungsweise 40 Jahren leicht gequält in die Kamera lächelte.
Doch die Anhäufung immer gleicher Bilder und Motive – »Pleonasmus« nannte Walter Benjamin dies – ergab für den fotografierenden Gatten durchaus einen Sinn. Für ihn stand das Motiv vermutlich für Wohlstand, Harmonie, Perfektion – in der Wirtschaftswunderzeit.
Jahrzehnte später landeten die Aufnahmen im Dia-Magazin in einer Bochumer Trödelhalle, wo drei junge Männer sie aufspürten und mit nach Hause nahmen. Für Florian, Boris und Alex sind die Bilder »Stelldich- mal-dahin-Aufnahmen«. »Stell dich mal dahin, dann zeigen wir der bayerischen Verwandtschaft, wie grün es bei uns im Ruhrgebiet ist«, mag der unbekannte Knipser zu seiner Frau gesagt haben. Fotografieren, um zu repräsentieren.
Florian Biedermann, Boris Runte und Alex Schwegl nennen sich »Dunix Lichtbilder « oder auch »Mülltrenner deutscher Heim-Fotokunst«. Ein Kunsthistoriker würde sie »Appropriation Artists« nennen: Aneignungskünstler geben bereits vorhandenen Erzeugnissen der Massenkultur eine neue Bedeutung und provozieren dabei ständig die Frage: Ist das jetzt Kunst? Oder Kritik an ihr? Oder beides?
Jahrzehnte, nachdem das fotografierende Familien-Oberhaupt das Motiv »Gattin/Blumenbeet « aufnahm, um mit ihm die eigene Stellung in der Welt zu demonstrieren, legen drei junge Männer Jazz-Musik darunter: »You’re my barbie-girl, in a barbie world” klingt es zu den Bildern. Plötzlich bekommt das Posieren der Frau etwas Künstliches, Puppenhaftes. Plötzlich kann man in den Dias lesen: von Spießigkeit, Zeitgeist, Ehe. Man kann aber auch bloß still grinsen. Florian, 35 Jahre alt, gehört mit zur letzten Generation, die Dia-Vorführungen als Kind noch erlebt haben. Menschen in seinem Alter spielen Urlaubsbilder in der Regel von der Kamera auf den Fernsehbildschirm, schicken sich die schönsten auf Handy als MMS. Doch das gleichaltrige Dunix-Publikum, größtenteils ebenso Dia-Abend-geschädigt ist wie Florian selbst, hat inzwischen wieder Spaß an dem alten Medium. In Clubs, Kneipen, Museen und Kulturzentren in Hamburg, Berlin, Frankfurt und dem Ruhrgebiet sind die Dunix-Vorstellungen ein Renner und die drei Macher vermutlich nur deshalb noch nicht berühmt, weil Dunix für sie nur ein Hobby ist. Florian ist Journalist, Alex Cutter und Boris IT-Techniker.
Gegenüber der Plattensammlung in der Bochumer Haus-WG der drei steht ein Meter hoher Registerschrank, dessen 95 Schubladen voll mit Dias sind. Die Fächer tragen Titel wie: »Fachwerk und dumme Häuser«, »Kunst und Kirchen«, »Weihnachtsbaum«, »Partys«, »Urlaub in Italien«. Dem Medientheoretiker Vilém Flusser zufolge huldigt der »Knipser« überall auf der Welt einer identischen Weltanschauung, die nichts als Redundanz im Fotoalbum schafft. Auch der Soziologe Pierre Bourdieu kam 1965 zu dem Ergebnis: Nichts ist konventioneller und reglementierter als die Produkte der Amateurfotografie. »Die Anlässe ebenso wie die aufgenommenen Gegenstände, Orte und Personen, ja sogar die Komposition der Bilder scheinen impliziten gebieterischen Regeln zu gehorchen.« Für den Franzosen war dies auch deshalb so unbegreiflich, weil die Möglichkeiten des Mediums verheißungsvoll schienen: Im Gegensatz zur Malerei habe die Fotografie keine Traditionen und Ansprüche, sei »gänzlich anarchisch, individuelle Improvisation«.
Doch Anarchie liegt dem Amateurfotografen fern – das weiß man spätestens nach einer Zufallsstichprobe im Dunix-Diaschrank. Florian, Alex und Boris haben in den vergangenen Jahren zehntausende Dias erworben. Sie besitzen mehr als 20 Projektoren – unter anderem der Marke »Dunix« –, und im Keller warten Kartons voller Magazine aufs Gesichtetwerden. »Seit Anfang der 90er Jahre macht so gut wie niemand mehr Dias, das merkt man schon jetzt am Bestand der Trödelhallen. Deswegen sammeln wir erst mal alles, bevor sie irgendwann verschwunden sind«, sagt Florian. Höchstens jedes fünfte Bild eines Magazins überlebt die Dunix-Selektion – zumindest, wenn die Fotos aus den 1970er Jahren stammen.
»Der Schnappschuss ist eine Erfindung der 70er«, vermutet Florian, »erst da wurden die Bilder so günstig, dass man sich auch danebengegangene Aufnahmen leisten konnte.« Auf älteren Dias, sagt Florian, wird deutlich häufiger mit Bedacht posiert. In den 50er und 60ern knipste man gern auch die Konsumgüter, die man sich jetzt leisten konnte: den ersten Fernseher, das Telefon, das Auto. Die ältesten Objekte stammen aus den 40er-Jahren. Die Dia-Fotografie war seit kaum zehn Jahren erfunden, und der Familie, die sich auf ihrem Landgut ablichten ließ, sieht man an, dass zur Feier des Tages die besten Kleider angezogen und die Haare frisch frisiert wurden. Davon sind die Knipser drei Jahrzehnte später weit entfernt. Unter dem Titel »Greatest Misses« hat Dunix eine Schublade voller Bilder mit groben handwerklichen Fehlern gesammelt: Menschen, denen Kopf oder Füße fehlen, mitunter auch beides. Solche Bilder hinterlegt Dunix dann gern mit »Wonderful world«. Die drei Schallplatten-Sammler experimentieren mit der Wirkung von Musik, versuchen meist gerade nicht die nahe liegenden Klänge zum Bild zu nehmen und.
So gelingt es Dunix, mit einem Cello-Klavier-Stück in Moll eine seltsame Wehmut zu erzeugen, obwohl auf der Leinwand Szenen einer Karnevalsparty zu sehen sind. Buffet- Schlachten, Fleisch-Berge und Sahnetorten werden mit härtestem Metal unterlegt. Bilder »struktureller Gewalt im Haus« – laut Florian all die Sofas mit großem Muster vor Tapeten mit noch größeren Mustern – werden von Punk begleitet.
Warum nur, fragt sich der Betrachter, haben solche Bilder überhaupt den Weg in die private Dia-Sammlung gefunden? Wieso sind sie überhaupt fotografiert worden? Das ordentlich beschriftete Magazin »Herzinfarkt 1972« kann man sich vielleicht noch erklären: Das lebensbedrohende Ereignis verliert seinen Schrecken, wenn es erst einmal sortiert, gerahmt und beschriftet ist. Wer aber braucht zwanzig überbelichtete Bilder eines Pudels im Wohnzimmer?
»Die Generation, die nicht darauf versessen war, in Aufnahmen auf die Nachwelt zu kommen, hat ihre Tugenden nicht vererbt«, stellte Walter Benjamin in seiner »Kleinen Geschichte der Fotografie« fest. Es liege einfach in der Natur des Menschen, sich die Dinge räumlich näher zu bringen. »Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden.«
Andererseits, stellte die amerikanische Essayistin Susan Sontag in »Über Fotografie « fest, benutzen Menschen das Fotografieren auch unbewusst, um sich gewissen Erlebnissen und Erfahrungen zu verweigern – vor allem im Urlaub, der Hochsaison für Hobby-Fotografen. »Reisen wird zu einer Strategie,die darauf abzielt, möglichst viele Fotos zu machen. Allein schon das Hantieren mit der Kamera ist beruhigend und mildert das Gefühl der Desorientierung, das durch Reisen oft verschärft wird«, schreibt Sontag. »Der Künstler«, befand dagegen Nietzsche, »wählt seine Stoffe aus. Das ist seine Art zu loben.« Nun wählt auch der Amateurfotograf bewusst aus – allerdings nicht, um die Motive zu adeln, sondern sich selbst. Er fotografiert, um genau dieses Bild von sich zu hinterlassen. »Wie könnte unter solchen Bedingungen die Darstellung einer Gesellschaft etwas anderes sein als die Darstellung einer Gesellschaft, die sich selbst darstellt?«, fragte Pierre Bourdieu verwundert.
Vierzig Jahre später wundert sich niemand mehr: Auf Dunix-Lichtbild-Abenden wird gelacht, gekichert, gegrinst, und dabei ist allen sonnenklar: In einem halben Jahrhundert werden sich andere Menschen unsere Selbstdarstellung anschauen, eben so grinsend. Digital statt auf Dia, aber fotografiert im selben Geist.