TEXTE: ANDREAS WILINK, SASCHA WESTPHAL
Stück 1: Wolfram Lotz »Die lächerliche Finsternis«, Burgtheater Wien
Ein Bundeswehr-Hauptfeldwebel wird mit seinem Unteroffizier zum Hindukusch geschickt, um einen womöglich irre oder auch gefährlich klug gewordenen Offizier zu liquidieren. Dass der »Hindukusch« hier kein Gebirge, sondern ein Fluss ist, gehört zu Wolfram Lotz’ Tücken, mit denen er die Exotik des Dramas und seine »weiße« postkoloniale Erzählung, die noch ein paar andere Stränge verfolgt und Fallstricke legt, auf- und zugleich abrüstet. Dazu gehört ein »schwarzer Neger aus Somalia«, der als studierter Pirat und sprachgewandtes Globalisierungsopfer seine Verteidigung glänzend performt. Frauen spielen Männer: Frida-Lovisa Hamann, Dorothee Hartinger, Stefanie Reinsperger, Catrin Striebeck sind das üppige Pfund, mit dem die Inszenierung wuchert und wuchtet. Dusan David Parizeks Dekonstruktions-Faible passt hier gut. Beinahe zu gut. Die Aufführung ist fast stärker als der Text und insofern ideal als Mülheimer »Stück«. Lässig krempelt sie um, kaspert, wendet auf links und verkehrt ins Gegenteil. Lässt womöglich auch Schwächen der »Lächerlichen Finsternis« hinter Spiel, Demontage, Parodie, Künstlichkeit verschwinden, wobei sie jedoch dessen eigene Theorie (Fiktion versus Wirklichkeit) nicht noch mitliefern müsste. Der Text zehrt von der Aura der Vorlage, von Joseph Conrad und Francis Ford Coppola. Sogar noch dort, wo das mythisch Undeutliche von »Herz der Finsternis« / »Apocalypse Now« ins Prosaische überführt wird. Dass der westeuropäische Blick ein verstellter, medial gezinkter, mithin lächerlicher ist, die Bundeswehr so aufgestellt ist, wie Frau von der Leyen zu Protokoll gibt, nun ja. Die Cleverness der süffigen Aufführung macht Laune und will sich den Spaß gegenüber der Fake-Revue nicht verderben lassen, in der man die Meta-Ebenen von Lotz nur über Stolperstufen erreicht. Klein, aber hoho. Allerfeinstes Schauspielertheater. (…)
StüCk 2: Dirk Laucke »Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute«, Staatstheater Stuttgart
Überall liegen kleine Hölzchen herum, vielleicht Streichhölzer, denen die roten Köpfe fehlen. Noch lässt sich die Gefahr kontrollieren, noch ist es nicht zu spät, scheint Sami Bills Bühnenbild zu sagen. Ein Versprechen, das angesichts von Dirk Lauckes Szenenfolge über den rechten Stand der Dinge landauf, landab allerdings mehr als nur ein wenig irritiert.
Inspiriert von Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reichs« und Franz Xaver Kroetz’ »Furcht und Hoffnung der BRD« blickt der 1982 geborene Dramatiker aufs vereinte Deutschland. Was zu Tage tritt, sind Hass und Feigheit, Rassismus und Resignation, Gewalt und Angst. In den »nationalbefreiten Zonen« im Osten wie auf einem Bio-Bauernhof in Bayern, in den schicken Einfamilienhäusern der bürgerlichen Mitte wie in tristen Plattenbau-Siedlungen in Halle Silberhöhe. In 23 Szenen, die kreuz und quer durch die Republik und soziale Schichten springen, breitet sich das Panorama des Entsetzens aus. Szenische Schlaglichter, die Situationen umreißen und aus denen sich gelegentlich Geschichten schälen.
Wie die vom sensiblen Danny, der mit seinen Skinhead-Freunden rumhängt und vermeintliche Kinderschänder foltert. Eigentlich will er aus der rechten Szene raus. Aber der Absprung will nicht gelingen. In Jan Gehlers Inszenierung spielen sämtliche Rollen drei Frauen und drei Männer, alle in Schwarz, aber ohne die klassischen Insignien der rechten Szene. Springen wie der Text von einer Figur zur anderen, wechseln auch mal das Geschlecht. Alles ist eins auf der Bühne. Die alten Klischees gelten nicht mehr. Rechtes Denken und Handeln findet sich mittlerweile in fast allen Milieus. Während sich Laucke um größtmögliche Konkretion bemüht, setzt Gehler gezielt aufs Abstrakte. Dabei geht zwar einiges verloren. Dafür entwickeln seine oratorienhaft angelegten Szenen eine andere Wucht. Hier dreht sich alles um die Sprache, die den rechten Virus überall hinträgt. Auch in die Intendantenbüros und Dramaturgien der Theater, die Laucke in der letzten Szene mit ihren blinden Flecken konfrontiert. Klein, aber hoho. Allerfeinstes Schauspielertheater.
Stück 3: Elfriede Jelinek »Die Schutzbefohlenen«, Thalia Theater Hamburg
Sie flüchten an den Ort einer Gottheit, die nicht spricht und nicht schützt. Es ist eine antikische Klage (nach Aischylos), die diese »Schutzbefohlenen « anstimmen. Sie sind unter die Fremden gefallen – uns Barbaren, die wir uns doch etwas einbilden auf Kultiviertheit und demokratische Verfassung.
Später fährt ein hölzerner Christ-Gekreuzigter herab. Auch eine Kanzel kommt zum Einsatz. Noch später fällt ein Gitter herab. Im Hintergrund der installativen Bühne zeigt ein Zähler die wachsende Größe der Boat People an. Auf Bildtafeln erscheinen Phrasen aus einer Broschüre (für politische Bildung), die das Gemeinwohl und die Wertegemeinschaft feiern. Drei junge Männer (Felix Knopp, Daniel Lommatzsch, Sebastian Rudolph) lesen ihre Texte vom Blatt ab: Sprechakte. Ein Farbiger (Ernest Allan Hausmann) kommt dazu und eine schwarze Darstellerin Thelma Buabeng sowie die Schauspielerin Barbara Nüsse. Pro und Contra, Rede und Gegenrede, Spruch, Widerspruch, Einspruch: Einwürfe werden konstruiert, um Ich, Wir und die Anderen zu markieren. Synchronität und Gleichberechtigung im Vortrag lassen sich so spielerisch parodieren, trivialisieren, hinterfragen, ausstellen, zurücknehmen, unterlaufen etc., um die Ungleichheit der weißen Redenden und der, über die geredet wird, zu demonstrieren. Wer ist in diesem Diskurs Herr der Rede? Sprach-Entwicklungshilfe zeigt sich als Übergriff. Elfriede Jelinek umspielt die Begriffe: Freiheit, Recht, Herkunft und postuliert, dass die Menschenrechte nur für diejenigen gelten, die sie einst selbst erstritten, erfunden und für sich exklusiv verwirklicht haben und sie nun den »Fremden« in Sonntagsreden und mit bürokratischen Formeln andienen.
Nicolas Stemann scheint anfangs Mühe zu haben, das Textmaterial in den Griff und in Form zu bekommen. Lässt einen Schlager singen und Farben auftragen: Weiß wird Schwarz, Schwarz wird Weiß, lässt Männer Frauenroben anziehen und die Flüchtlings-Masse (Hamburger Asylanten) Zusammengenähtes aus der Kleidersammlung, lässt Bach und Schubert (»In der Fremde«) improvisieren und sich überhaupt einiges einfallen, um die Szene bewegt und abwechslungsreich zu halten. Die zwei Stunden haben gleichwohl eine in ihrer Ironie unironische Kraft, obwohl die Inszenierungs-Mittel eher wiederum auf Distanzierung aus sind als Konstrukt aus Sound, Liturgie und Happening. Doch erst die volle Wucht des Auftritts der »echten« Schurzbefohlenen lässt es uns mulmig werden und ahnen, dass hinter der hilflosen Geste auch die geballte Faust droht.
Stück 4: Rebekka Kricheldorf »Homo Empathicus«, Deutsches Theater Göttingen
Das ist er also der neue, glückliche und zufriedene Mensch. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, und wenn er einmal nicht lächeln kann, ist es Zeit für eine Lachübung. Seine Sprache gleicht seiner weißen, körperliche Merkmale verdeckenden Kleidung: blütenrein und frei von Individualität. Zudem bewegt sich der »Homo Empathicus«, als sei sein Leben nichts als eine Tai-Chi-Übung. Seinen Vorgänger, den Homo sapiens, hat er endlich überwunden und sich freudestrahlend von dessen Eigenschaften gelöst. Aggression und Konkurrenzdenken gehören genauso der Vergangenheit an wie Eifersucht und jede Form von Exzess. Eine schöne neue Welt, ein Paradies, aber eines, das in seinem Innersten vergiftet ist. Die Saat, die in Rebekka Kricheldorfs Satire perfekte, artifizielle Blüten treibt, ist schon gesät. Man weiß um die Versuche der Gesellschaft, alles Schlechte zu eliminieren, etwa, die Sprache von schlechten Wörtern zu bereinigen. Kricheldorfs Figuren ist das gelungen. »Häßlich« und »alt« sind aus dem Sprachschatz gestrichen. Stattdessen gibt es blumige Umschreibungen. Wenn jemand stirbt, heißt es: Es (diese Sprache geschlechtsneutral) hat »seinen Moment erlebt«. Da fällt es dieser Gesellschaft auch gleich viel leichter, diejenigen, die sich nicht einfügen wollen, zu töten. Schließlich erleben sie dadurch ihren Moment nur etwas früher. Die Vision vom glücklichen Leben, in das sich in Erich Sidlers Uraufführung auf blendend grüner Bühne das gesamte Göttinger Ensemble stürzt, erweist sich als Albtraum. Dennoch hat das Stück in der programmatischen Inszenierung etwas Utopisches. Am Ende ist es eine Theateraufführung, die den Homo Empathicus dazu bringt, sein wahres Gesicht zu zeigen: das Theater als rettender Störfaktor.
Stück 5: Yael Ronen & Ensemble »Common Ground«, Gorki Theater Berlin
Die Israelin Yael Ronen weiß, dass es viele Wahrheiten gibt, mindestens zwei (die jüdische und die palästinensisch/arabische). Aber in Jugoslawien gibt es mehr, mindestens sechs. Diese Konfusion wird zunächst eine halbe Stunde lang zur wilden Montage der 1990-er Jahre verschnitten. Das wirkt wie ein ganzer Jahrgang Eurovision Song Contest im Schnelldurchlauf: Steffi Graf neben Sarajevo und Rostock-Lichtenhagen, Irak und Algerien, Freddy Mercury neben Basic Instinct usw. History im Disco-Fieber, befruchtet von feuchten Träumen. Chaos der Wahllosigkeit. Man hat keine Wahl. Es kommt, wie es kommt. Dann wird es ruhiger. »Der Kriegszustand« erreicht die Körper. Das Ensemble mit Bosnier, Kroate, Serbe aus der zweiten Generation und einigem dazwischen (auch dem »rein« deutschen Niels Bormann als grüner Gutmensch, Hypochonder, Ufo-Fantast, Polit-Idealist, Organisations-Fetischist und neutral blöder Betrachter) sitzt und spielt auf und mit Kisten, Trümmern, Stelen, Grabsteinen. Die Theater-Gruppe reiste gemeinsam nach Sarajevo ins Holiday Inn und begegnet sich, dem bösen Anderen, dem Feind und Hassobjekt in sich selbst. Die furchtbare Rolle von Opfer und Täter als Erbsünde. Leid-Tun: Der Doppelsinn des Begriffs kommt einem ganz nah, spielerisch.
Ganz im Ernst. Die vitale Gruppendynamik – Tanz über Gräbern, Komik der Herkunft, das Irrationale ethnischer Zuschreibung – wird inszeniert als Improvisation. Und produziert (echte) Emotion, Konfession, Abwehr, Akzeptanz, Schicksalsfragen, Peinlichkeiten, Momente des Innehaltens, der Selbstüberprüfung von Ich – Wir – Du – Uns. Alles ist drin. Nicht immer überzeugend, manchmal falsch dramatisch aufgeschäumt. Aber das macht gar nichts.
Stück 6: Felicia Zeller »Wunsch und Wunder«, Saarländisches Staatstheater Saarbrücken
Einen ersten Hinweis gibt der alliterierende Titel. In Felicia Zellers Komödie um die Tücken der nicht mehr ganz jungen Reproduktionsmedizin geht es alles andere als subtil zu. Ihr Witz ist mit Kalauern geschwängert, der Boulevard befruchtet ihre Gags. Nicht zufällig stellt sich Zeller das Bühnenbild so vor: »Die gesamte Praxis scheint nur aus Nebenzimmern zu bestehen, von jedem Zimmer aus führt eine Tür in ein Nebenzimmer«, und so geht es dann immer weiter. Wer dabei an das Auf und Zu von Boulevard-Türen denkt, wird von Wolf Gutjahrs Bühnenkonstruktion für Marcus Lobbes’ raufführung begeistert sein.
Die Praxis von Dr. Flause, Pionier der Kinderwunsch-Erfüllung, und seiner Partnerin Dr. Betty Bauer ist ein Karussell identischer Räume mit Waldfototapete und Kleenex-Spender. In jeder Wand eine Klapptür. Eine Zentrifuge der Sehnsüchte und Verrücktheiten. Wenn sich mal nichts dreht, sind es die beiden Ärzte, der bei ihnen arbeitende Biologe und Laborleiter Schimmerle, die Arzthelferin Nicole Neider und die einst in der Praxis gezeugte Katja von Teich, die im wahrsten Sinne am Rad drehen. Lobbes zieht das Tempo der an sich schon rasanten Dialoge, die um männliche Allmachts-Fantasie und weibliche Familienhoffnung, um medizinische Ethik und technische Möglichkeiten kreisen, noch kräftig an. Sie stehen nicht nur im Tapetenwald, es treibt sie auch in Grimms Märchenwald. Greifen zu Froschmasken, roten Zipfelmützen oder Kronen. Aber so sehr sie sich wie Frösche oder Könige fühlen, letztlich sind sie Zwerge, die sich als Riesen aufspielen und dabei die Kontrolle verlieren. Der Wirbel trennt indessen säuberlich Komik von Ernst, Boulevard von Tragödie. Während sich Außen die Gags überschlagen, herrscht im Innersten Verzweiflung. Bleibt das Wunder aus, wird der Wunsch zur Pein.
Stück 7: Ewald Palmetshofer »Die Unverheiratete«, Burgtheater Wien
Es dauert eine ganze Weile. Letztendlich sogar 60 Jahre. Bis die Wahrheit ans Licht kommt. Noch einmal also: welche Wahrheit – die der Alten oder die der Enkelin, die des Richters, die vom Täter oder die der Opfer? Ewald Palmetshofer umspielt seine Monstre-Tragödie und lässt dem Dramen-Korpus einige Geschwülste zuwachsen. Verzweigungen des einen Hauptwegs vom Nazireich in die Gegenwart, von der jetzt alten, die damals als junge Frau kurz vor Kriegsende einen Milchbuben-Soldaten als Deserteur denunziert und dessen Tod verschuldet hat. Sie, ihre Tochter und die Enkelin – drei Frauen, überhaupt nur Frauen (außerdem vier Chor- und Finster-Märchen-Schwestern, die »Hundsmäuligen«, antikisierte Soubretten in wechselnder Staffage entlang der Epochen von Korkenzieherlöckchen des 19. Jahrhunderts über die BDM-Uniform zum strammen Business-Kostüm) – sind durch die Tat, das Schweigen und Verschweigen aneinander gebunden und beschädigt.
Die Atriden als männerlose Familie in Österreich. Bei diesem mythischen Urbild muss man schon großes Kino machen. Am Ende nimmt sich die Alte den Strick, die Axt wird geschwungen, Blut ausgeschüttet. Verstrickung in drei Generationen. Wir schauen in eine bürgerliche Hölle, die für die Bewohnerinnen auch und zumal in Beziehungsunfähigkeit, Einsamkeit und sexueller Verkehrtheit besteht. Der Fluch der bösen Tat. Die Enkelin (Stefanie Reinsperger) treibt es arg promisk und fotografiert die zum Einsatz kommenden Körperteile der sie beschlafenden Männer. Ihre Mutter (Christiane von Poelnitz) ist allein. Die Alte hat sich rabiat im Abseits eingerichtet – bei Elisabeth Orth ein herrisches Urwesen zwischen Horváths böser Großmutter, Thomas Bernhard und Jelineks Weibsteufelinnen.
Lebendig begraben zwischen kleinen Erdhügeln und einem schmelzenden Eisblock, der den Kälteschock markiert. Wie eine Norne zieht die Alte den Schicksalsfaden durch den Theaterraum, oder ist es die Nabelschnur? Regisseur Robert Borgmann gibt das Stück nicht klein und billig – seine Uraufführung holt auf ihre Weise mit Pathos ebenso weit aus wie der Autor Palmetshofer in seiner forcierten Rätsellust und sprachstilistischen Steilheit. Eine gewisse Über-Originalität und Exaltiertheit, aber auch Wucht liegt in den Bildern, etwa den opernhaft auf- und niederfahrenden roten Vorhängen vor der Brandmauer.