TEXT: NICOLE STRECKER
Emanuele Soavi hat ein Problem. Er will nicht so sein, wie alle ihn sehen. Und: Er will nicht so sein, wie er sich selbst sieht. Im Grunde will er gar nicht ›sein‹, er will immer ›werden‹. Permanente Metamorphose als Identitätskonzept – wenn das mal nicht eine ideale Voraussetzung für einen Bühnenkünstler ist.
»Die Leute sagen, ich bin klein und süß und sympathisch.« Emanuele Soavi – 1,63 Meter groß, stets strahlende Weihnachtskinderaugen – spricht über die tägliche Konfrontation mit Männlichkeitsidealen in der Werbung, im Fernsehen, sein Abweichen vom Prototyp. Er verliert den Satz in deutsch-englisch-italienischen Gedankenschlaufen und diagnostiziert: »Es herrscht die Diktatur der Oberfläche.« Gegen diese Tyrannis rebelliert Soavi nun schon ein paar Produktionen lang und sucht nach der Verunsicherung der Gewissheiten. ›Ich ist ein anderer‹, immerzu ein anderer. Aktuell ein »Black Bird Boy« – so der Titel seines neuen Solos.
EINE VERBLÜFFENDE PRÄSENZ
Ein Kölner Tanzstudio. Sonst bekommen hier Laien die Freuden und Martern des Balletts vermittelt. Zwei große Fensterfronten und ein heller Parkettboden sorgen für Wohlfühlatmosphäre. Kein wirklich geeigneter Ort für einen düsteren Psychotrip, wie ihn Soavi derzeit mit seinem Solo erarbeiten will, aber nun mal einer der raren Probenräume, die die Stadt Köln gelegentlich für ihre Choreografen organisiert. Emanuele Soavi sitzt auf einem Schemel mit dem Rücken zum Publikum, eine prachtvoll-platinblonde Lockenperücke auf dem Kopf. Seine Hand tastet verloren hinter seinem Rücken herum, als wolle er den Abgrund hinter sich ausloten – und Soavi braucht keine Verdunkelung, keine bühnentechnischen Licht-Schatten-Effekte. Seine Präsenz ist verblüffend. Er kann im gleißenden Sonnenlicht sitzen und trotzdem die bizarr-traurige Brüchigkeit dieser Figur spürbar zu machen. Wer mag er in diesem Augenblick sein – eine weltentrückte Engelsgestalt, eine verletzlich-verführerische Marilyn Monroe oder eben doch ein Transvestit, der seine Zuschauer narrt?
»Das Märchen vom ›Hässlichen Entlein‹ stand am Anfang dieser Arbeit«, erklärt Soavi, weil sie für ihn wegen des Schwans mit Tanz zu tun habe. Immer wieder der Schwan. Sogar für ihn als männlichen Tänzer war der große weiße Wildvogel einst ein Ballett-Traum. Kaum erfüllbar – außer man choreografiert selbst: So ist Soavi in einer seiner ersten eigenen Arbeiten, »Multiplicaution«, einer von drei Männern, die mit nackten Oberkörpern, aber viel weißem Tüll um die Hüften das Klischee von der ballettös-manieristischen Keuschheit der Tanz-Tier-Ikone ironisieren: Klassisch-schön geführte Linien, die in kurvige Tabledance-Erotik oder in die wirklichkeitsnahe Aggressivität des Wildtieres übergehen. Aufregende Fantasiekreaturen, gleichermaßen Mensch und Tier, Mann und Frau – wie einst im weltberühmten »Swanlake« des Briten Matthew Bourne mit ausschließlich männlichen Schwänen, dem am längsten gespielten Ballett auf dem Broadway.
IMMER WIEDER DER SCHWAN
Soavis Schwanen-Vervielfältigung bleibt eine choreografische Miniatur – aber eine, die ihrem Titel gemäß aufmerken lässt, und die ein Leit-Thema in seinem Schaffen etabliert: das Androgyne. »Mich interessiert alles, was ›dazwischen‹ ist: Zwischen zwei Bewegungen, zwei Zuständen, zwei Figuren. Nichts soll fest sein.« Ein ästhetisches wie thematisches Credo mit autobiografischer Motivation: Er wurde in Italien unter anderem in der Ballettschule der in Köln gelegentlich gastierenden Kompanie »Aterballetto« im klassischen Tanz ausgebildet. »Heutige Tanz-Hochschulen arbeiten auch mit der Persönlichkeit der Tänzer«, sagt Soavi, der selbst immer wieder an Universitäten unterrichtet. »Bei mir war das nicht so. Ich war eine Maschine. Es ging um Exaktheit des Stils, nicht um künstlerische Freiheit.«
Soavi bekam sein erstes Engagement an der Opera Roma, arbeitete drei Jahre beim Ballett Dortmund. 2001 ging er zur niederländischen Kompanie »Introdans«, und dort entdeckten die zeitgenössischen Choreografen in der ›Maschine‹ endlich die aufregende Tänzerpersönlichkeit. Für William Forsythe tanzte er eine Solopartie in dessen berühmtem Ballett »Kammer/Kammer«. Mats Ek kreierte eigens ein Solo für ihn – aber Soavi lächelt ein bisschen schief, wenn man ihn heute darauf anspricht. Eine Ehre, ja, das schon, aber er bekam mal wieder das »naive Image eines kleinen Jungen, der ganz allein auf der Bühne ist« verpasst. Witziger sei es mit dem gerade 80 Jahre alt gewordenen Hans van Manen gewesen – was nicht erstaunt, antwortet der Grandseigneur doch seit jeher auf die Frage, was ihn an einem Tänzer interessiere, immer nur mit zwei Worten: die Persönlichkeit.
DER PROBLEMATISCHE STANDORT KÖLN
Nach der niederländischen Emanzipationsphase als Tänzer folgt dann die langsame Selbstfindung als Choreograf. 2003 gründen Soavi, der Choreograf Massimo Gerardi und der Schauspieler Achim Conrad die Tanz-Theater-Formation »movingtheatre.de«. Als Standort wählen sie Köln – obwohl sich schon damals der stadtseitige ignorante Kurs gegenüber der Sparte abzeichnet, der bis heute anhält. So gibt es weder ein Tanzhaus noch eine städtische Kompanie in der Millionenstadt, und Gerüchten zufolge soll nun sogar der letzte Rest, der Etat für Tanzgastspiele, komplett gestrichen werden, obwohl die knapp zehn Gastspiele pro Jahr fast immer ausverkauft sind. Neun Jahren zuvor bringen Soavi und seine Kollegen eine neue Qualität in die Performance-lastige Kölner Szene: aufregend gute Tänzer, anspruchsvolle Choreografien, in denen nicht jeder Schritt mit Bedeutung gefüllt sein muss.
»Stadttheater-Ästhetik« lautet das sicher nicht ganz falsche, aber eben auch Karriere-bremsende Urteil durch die beiden NRW-Produktionsstätten Tanzhaus NRW Düsseldorf und PACT Zollverein Essen. Denn wer an diesen Häusern nicht ankommt, hat es grundsätzlich schwer, Fördergelder und nationale Anerkennung zu erhalten. Als die Stadt Köln im vergangenen Jahr eine dreijährige Förderung für insgesamt sieben Gruppen in Aussicht stellte, vergab die Jury zwei Förderungen lieber gar nicht, als eine davon dem Movingtheatre.de zuzusprechen – eine höchst fragwürdige Entscheidung ohne offizielle Begründung. Die Enttäuschung für die Gruppe war so groß, dass sie sich auflöste.
Emanuele Soavi will nicht mehr über diese emotional aufwühlende Zeit reden. Er trage gerade eine »rosa Brille«. Beim Münchner Gärtnerplatztheater wird er mit der dortigen Kompanie das Kinderballett »Peter und der Wolf« inszenieren. Und im nächsten Jahr folgt ein länderübergreifendes Großprojekt in Kooperation mit Spanien, Italien und den Niederlanden.
Aber zunächst: »Black Bird Boy«, mit dem er an sein Erfolgssolo »Pan« anknüpft, für das er den Kölner Darstellerpreis 2011 bekam. Oben Mensch, unten Ziegenbock, tänzelt Soavi in dieser frivol-spöttischen Mythen-Dekonstruktion leise meckernd über die Bühne wie durch einen verwunschenen Wald – und zelebriert auch schon mal in Anlehnung an Nijinskys Faun virtuos choreografierte Onanie. Wieder so eine Kreatur ständiger Metamorphosen – erotischer Jüngling, Stronzo und Entertainer, aber auch irre grinsender Dämon. Verblüffend, wie Emanuele Soavi gerade die Ausbrüche ins Horror-Metier meistert. Von wegen süß-sympathisch-Soavi. Er ist ein Virtuose getanzter Diabolik. Für ihn ein wunderbares Kompliment.
Vorpremiere von »Black Bird Boy« am 2. Oktober 2012, Premiere am 5., Aufführungen vom 6. bis 10. Oktober 2012 in der Alten Feuerwache Köln. www.emanuelesoavi.de + www.altefeuerwachekoeln.de