Fünf junge Männer haben sich lässig bis ausgelassen über eine Holzschranke gelehnt, die, rot und weiß gestreift, eine Baustelle versperrt. Die langen Haare, das Kettchen am Handgelenk, der »Easy Rider «-Schnurrbart, der Schlag der Jeanshosenbeine, die demonstrative Fröhlichkeit rufen sofort den Geist der 70er Jahre wach. Und sie wecken die Erinnerung auf, dieses Bild vor sehr langer Zeit schon einmal gesehen, fasziniert bestaunt zu haben: Franz Gertsch’ fotorealistisches Monumentalbild »Medici«.
Das vier mal sechs Meter messende Werk war 1972 zu Harald Szeemanns documenta 5 eingeladen und machte den bis dahin unbekannten Berner Maler schlagartig bekannt. Sehr kontrovers waren die Reaktionen: Den einen markierte es einen Höhepunkt der Banalität, für die andern war es ein weiterer mutiger Schritt hinaus aus bürgerlichem Kunstanstrengungsmief, weil es ungeniert die Jetztzeit, das Leben, den Alltag feierte. Man begriff es als Pop, als Nobilitierung des eigenen Lebensgefühls. Danach vergaß man das Bild, wie den Maler selbst, denn man sah nichts mehr von Gertsch, im Gegensatz zu den anderen, auf der documenta vorgestellten Foto- und Hyperrealisten wie Richard Estes oder Chuck Close. Aber heute, in der großen Gertsch-Retrospektive in Bern und Aachen wiederentdeckt, evoziert »Medici« mit einem Schlag die ganze damalige Epoche. Umhüllt sich allerdings auch, drei Jahrzehnte von seinem ursprünglich durchaus (kunst-)politischen Kontext entfernt, mit einem seltsamen Geheimnis: Wie kommt es, dass die Narration der Szene in ihrer Beiläufigkeit, die Komposition des Bildes in ihrer fotografischen Schlichtheit eine solche Suggestion ausüben?
Mag sein, dass die schiere Größe eine der Ursachen ist; andererseits haben Claes Oldenburgs aufgeblasene Alltagsgegenstände keine vergleichbare Wirkung. Alle Gertsch-Bilder besitzen diese Aura, alle seit 1969, als der damals bereits 39-Jährige sich nach zwanzig Schaffensjahren als Künstler neu erfindet und alles zuvor Geschaffene durchstreicht. Es soll auf dem Monte Lema im Tessin gewesen sein, als Gertsch mit einmal begreift, dass er die ihn quälende Suche nach der richtigen Form aufgeben kann. Dass die Bilder auf eine gültige Weise bereits da sind, dass er sie lediglich zu malen braucht. Die vorhande- nen Bilder, das ist die Fotografie. Bis dahin hatte der 1930 am Bielersee Geborene, in der privaten Malschule eines Berner Informellen Ausgebildete symbolistisch-neoromantische, zuletzt plakativ Pop-artige Bilder hergestellt, die aus heutiger Sicht allesamt epigonal erscheinen. Nach seinem Lema-Erlebnis und mit dem von ihm als Werk Nr. 1 bezeichneten Bild »Huaa…« gewinnt Gertsch augenblicklich eine eigene starke Sprache; das Verfahren, nach fotografischen Vorlagen zu arbeiten, die per Dia auf die Leinwand übertragen und deren ins Extreme vergrößerte Farbareale in winzigen Arbeitsschritten nachgeschaffen werden, dieses Verfahren setzt eine bis dahin blind umhertastende künstlerische Potenz frei. »Huaa…« von 1969 zeigt einen Reiter in historischer Offiziersuniform mit zum Schrei aufgerissenen Mund, ein Film-Still, das Gertsch in einer Zeitschrift gefunden hatte. Die folgenden Arbeiten entstehen jedoch nach eigenen Fotos, die Sujets sind die Mitglieder seiner Familie, später lokale Künstlerfreunde. Eine irritierende Widersprüchlichkeit manifestiert sich auf der Leinwand: Die Fotomotive, die Gertsch benutzt, sind der Komposition nach Schnappschüsse, mäßig gestaltete Ausschnitte banaler Alltagsszenen; der Prozess des extremen Vergrößerns sowie der des Ab-, besser gesagt Neumalens lädt sie dann mit einer solchen Wirklichkeitsstärke auf, dass der flüchtige Augenblick, den sie jeweils zeigen, wie eine historische Sternstunde erscheint.
Neben »Medici« sind »At Luciano’s House« oder »Marina schminkt Luciano« berühmt geworden. 1970 hatte der Kurator Jean-Christophe Ammann Gertsch entdeckt und ihm 1972 eine Einzelausstellung im Kunstmuseum Luzern ausgerichtet. »Medici« zeigt Künstlerfreunde vor dem zum damaligen Zeitpunkt wegen Renovierung geschlossenen Luzerner Haus; unter den freakigen Jugendlichen ist auch Luciano Castelli, den Gertsch durch Ammann kennengelernt hatte – ein androgyner, künstlerisch begabter Junge von damals 17 Jahren. Gertsch macht einige Fotos von der WG, in der Luciano lebt: flippige Kleidung, Matratzen auf dem Boden, ein schäbiges Bad, das Stück eines Plattenspielers, kultige Accessoires wie Räucherstäbchen und Kerzenleuchter, wir sehen Vorbereitungen auf ein Fest und den tristen Morgen danach. Aus diesen Augenblicksbildern mit unbekannten Menschen in nebensächlichen Situationen malt Gertsch Ikonen, aufgeladen mit dem Aroma einer ganzen Zeit. Dieser ikonografischen Widersprüchlichkeit gesellt sich eine formale hinzu. Die Hinwendung zur Fotografie hatte Gertsch »von einer zu starken Emotionalität«, wie er bekannte, befreit, von seiner »Verantwortlichkeit für die dargestellten Dinge«. Nun legt er seine ganze Emotion in das befreite Malen. Tritt man an eines der gleichbleibend riesigen Bilder nah heran, entdeckt man, dass auf der Leinwand an jeder Stelle ein Kampf um die Farbe stattgefunden hat (bei den in den 70er Jahren entstandenen sieht man dies am stärksten): »Die Mikrostruktur dieser Stellen widerspricht den Wahrnehmungserwartungen und ist kaum mit der gegenständlichen Darstellung in Einklang zu bringen, die den Blick aus der Ferne bestimmt«, schreibt Ulrich Loock im so opulenten wie genauen Katalog der Retrospektive. Gertsch malt das Gemaltsein der Dinge mit.
Dies unterscheidet ihn von den (amerikanischen) Fotorealisten, die eine von allem Persönlichen gereinigte Hyperwirklichkeit anstrebten; trennt ihn auch etwa von Gerhard Richter, der in denselben 70er Jahren mit Mitteln der Malerei Fotos herstellen will. Gertsch hingegen wird in dem Moment umso malerisch-gestischer, in dem er seine Sujets der Wirklichkeit einfach entnimmt. Er arbeitet mit kleinen Pinseln auf ungrundierter Leinwand, die die Farbe aufsaugt (im übertragenen Sinne saugt das Bild die vom Dia gelieferte Vorlage auf), die Arbeitsprozesse, denen er sich unterzieht, sind so aufwändig, dass pro Jahr kaum mehr als ein Bild entsteht. Lediglich 63 Positionen zählt das Werkverzeichnis von 1969 bis heute. Es spricht also viel dafür, dass eine weitere Ursache für die schwer erklärliche Suggestion der Gertsch- Bilder in der ungeheuren Menge von Zeit zu suchen ist, die in ihnen kumuliert ist.
Bilder im Übrigen, die, je reifer der Künstler wird, desto deutlicher schweigen – die Narration beenden. Bald nach den Darstellungen der Pop-Boheme, der Familie, der Künstlerfreunde mit ihren szenisch aufgeladenen Sujets wechselt Gertsch zum Einzelporträt, dem er bis heute anhängt: 1978/89 malt er eine Serie der Rockpoetin Patti Smith, die er in Köln kennen gelernt hatte. Danach nur noch (Frauen-)Porträts. Sowie ab 1995, nach einer zehnjährigen Malpause, auch Stücke der Natur, der er in der Zwischenzeit auf monumentalen Holzschnitten bildnerische Konzentrationsräume errichtet hat. Natur, das sind Wasserwellen, Stein- und Gräserfelder, also Formen der Wiederholung, der Enteinzelung. Ab Mitte der 80er Jahre tritt offen zutage, was schon in den frühen Bildern anklang: die Ferne des Künstlers und seiner Kunst von den Dingen, denen er so nah, so groß, so intensiv auf den Leib rückt. Weder zum Luciano-Kreis hatte er dazugehört (schon die Generation war nicht mehr seine), noch zu dem um Patti Smith; die Boheme-Bilder erzählen nur vom Vorher und Nachher, nie vom Fest; die Künstler-, die Familien-Stücke zeigen immer nur die andern. Und nun, in seinen Gras- und Wasserbildern, herrscht vor allem eines: das ontologische Schweigen der Natur. Die großen Porträts schließlich, »Christina« (1983), »Johanna« (1983-85), »Silvia« (1998-2004), sind Meditationsobjekte des menschlichen Gesichts, die nichts erzählen. Sie sind (allein schon aufgrund des Riesenformats) unglaublich nah. Und unglaublich fern. Sie zwingen aber den Betrachter in ihr Geheimnis, wie dies sonst etwa nur die Porträts der Renaissance vermögen. Das Werk Franz Gertschs, der am 8. März 75 Jahre alt wurde, ist auch einem anderen entzogen: dem Markt, der ubiquitären Verfügbarkeit. Die Größe der Formate und Dauer ihres Herstellungsprozesses verweigern sich dem Denken in Klicks. Die Aachener Ausstellung, vom museum franz gertsch (Burgdorf) und Kunstmuseum Bern konzipiert, ist die allererste Überblicksausstellung seines Werks überhaupt – eine sehr rare Gelegenheit. //
8. April bis 25. Juni 2006 im Ludwig Forum Aachen. Tel.: 0241/1807-104. www.ludwigforum.de. Katalog (Folioformat, 288 S., Hatje Cantz) 49,80 Euro