Vor 500 Jahren ist das »Universal-Genie« der Renaissance gestorben. Unendlich viel ist seither gesagt, geschrieben, spekuliert worden über das und all die Rätsel die sich um ihn ranken. Der Historiker Volker Reinhardt hat sich seine Notizbücher noch einmal vorgenommen. In seiner Da-Vinci-Biografie korrigiert er das gängige Bild des Genies – und bringt auch Licht in Leonardos lange ungeklärtes Verhältnis zum Glauben.
kultur.west: Herr Reinhardt, an den Anfang Ihrer Leonardo-Biografie stellen Sie ein Zitat des großen Künstlerviten-Schreibers Giorgio Vasari (1511-1574), der Leonardo als Ketzer beschreibt. Beim Nachdenken über die Natur habe er jegliche Religiosität verloren, so Vasari.
REINHARDT: Dabei hat der Begriff Ketzer im 16. Jahrhundert eine viel präzisere Bedeutung als heute. Wenn man das über jemanden schrieb, dann war man sich der Tragweite bewusst: Der Ketzer war jemand, der von den ehernen Regeln der damaligen Rechtsgläubigkeit abwich und mit brutalster Verfolgung rechnen musste. Aber ich stimme Vasari hundertprozentig zu – Leonardo hatte den Boden des Christentums verlassen.
kultur.west: Sie stützen Ihre neuen Thesen auf die berühmten Notizbücher Leonardos – aber sind die nicht schon gründlich gelesen und ausgewertet worden?
REINHARDT: Doch, aber man hat sie bisher nicht in ihrer Bedeutung für Leonardos Weltsicht und für seine Bilder, in denen sich die Weltsicht ja spiegelt, erkannt. Ich meine, dass in diesen Büchern alles drin steckt. Leonardo schreibt hier Klartext, wie er denkt und wie er die Welt sieht.
kultur.west: Es heißt, er trug stets eines dieser Büchlein am Gürtel. Tausende kleiner Texte, Aphorismen, Skizzen hat er da aufgezeichnet.
REINHARDT: Leonardo war ein Augenmensch, ein Empiriker, der beobachtet und aus seinen Beobachtungen Schlussfolgerungen zieht, das findet sich hier niedergelegt.
kultur.west: Welche Schlussfolgerungen zum Beispiel?
REINHARDT: Er hat etwa Schädel seziert, hat versucht, das menschliche Bewusstsein zu lokalisieren. Dabei gelangte er zu der Überzeugung, dass die Seele des Menschen nicht unsterblich ist, dass sie zusammen mit dem Körper stirbt. Wenn der Körper verfällt, dann verfällt auch die Seele, so seine Folgerung: Nach dem Tod ist alles zu Ende.Ein anderes Beispiel: Auf den Bergen des Apennin entdeckte Leonardo versteinerte Fische und andere Meerestiere. Er fragte sich, wie sie dorthin gekommen sein können, und machte die sensationelle Entdeckung, dass die Täler der Toskana vor sehr langer Zeit Meeresarme gewesen sein müssen. Damit war für ihn die christliche Schöpfungslehre widerlegt. Die Bibel behauptete ja, die Welt sei rund 6000 Jahre alt.
kultur.west: Wir kennen Leonardo da Vinci ja auch als einfühlsamen Maler biblischer Historien. Wie lässt sich das mit seiner klaren Abwendung vom Christentum in Einklang bringen?
REINHARDT: Seine Bilder mit biblischen Themen brechen radikal mit Traditionen und Konventionen. In seiner unvollendeten »Anbetung der heiligen drei Könige« etwa ist Joseph nicht auszumachen. Ein klarer Fauxpas. Und seine Interpretation der »Heiligen Anna selbdritt« zeigt den künftigen Erlöser einfach als ungezogenen kleinen Jungen, der einem unschuldigen Lämmchen den Hals umdreht. Meine These ist, dass Leonardo die biblischen Geschichten radikal vermenschlicht. Dass er sie auf menschliche Grundsituationen zurückführt. Auch beim »Abendmahl« – da wird ein grundgütiger Anführer von einem seiner Gefolgsleute verraten. Leonardo zeigt eine menschliche Tragödie, aber mehr nicht. Mit dem transzendenten Gehalt, mit der Eucharistie und den damit verbundenen Theorien der Wandlung konnte er nichts anfangen.
kultur.west: Woran hat Leonardo dann geglaubt, lässt sich das sagen?
REINHARDT: Er glaubte an eine ewige, ungeschaffene Natur, in der eine große Gestaltungskraft waltet, die alle Lebensformen hervorbringt. Deshalb ist die Erforschung der Natur für Leonardo auch so wichtig. Da waren etwa die Humanisten, die Trendsetter seiner Zeit, ganz anderer Ansicht. Für sie waren die Erkenntnisse der Antike das Maß aller Dinge. Die Naturforschung existierte damals eigentlich gar nicht. Erst recht nicht in den Universitäten. Die Mediziner beispielsweise lernten nur antike Lehrbücher auswendig. Für Leonardo aber war dies die erregendste und am meisten versprechende Aufgabe des Menschen auf Erden: zu erforschen, wie die Natur funktioniert.
kultur.west: Welchen Platz hat der Mensch in Leonardos Welt?
REINHARDT: Er sah ihn sicher nicht als »Krone der Schöpfung«, wie die Bibel. Viel eher als sehr gefährliches, zerstörerisches Wesen. Besonders wenn er der Kriegswut verfällt. Für den Stadtpalast von Florenz sollte Leonardo ein patriotisches Erbauungs-Bild malen, das einen der wenigen Siege zeigt, die Florenz je über Mailand erringen konnte. Das Original ist nicht erhalten, doch kennen wir Leonardos Schlachtenszene aus Kopien und Vorzeichnungen: Krieger und Pferde verknäulen sich ineinander, besessen von einem wahren Furor, den Gegner zu vernichten. Es ist eine Studie in Selbstzerfleischung, die den Menschen in seiner ganzen Hässlichkeit zeigt.
kultur.west: Nun war Leonardo ja auch ein genialer Erfinder – er entwickelte Brücken, Flugapparate und auch Kriegsmaschinen. Steht das nicht in Widerspruch zu seiner Abscheu gegen den Krieg?
REINHARDT: Die angeblich so genialen Maschinen muss man anders sehen. Für mich sind das größtenteils Entwürfe über das Streben des Menschen, die im Wesentlichen utopisch sind. Eigentlich Karikaturen, Parodien auf die menschliche Eitelkeit, den Hochmut. Die Flugapparate sind für ihre Entstehungszeit ebenso unbrauchbar wie seine Kriegsmaschinen, in denen sich vor allem eines manifestiert – die Zerstörungswut des Menschen.
kultur.west: Ein überzeugter Pazifist, Vegetarier war er ja wohl auch, das war ja sicher nicht üblich in seiner Zeit.
REINHARDT: Nein, für Leonardos Zeitgenossen war der Mensch den Urgewalten der Natur ausgeliefert und musste sie zähmen. Er aber sah es umgekehrt: Die Erde braucht Schutz vor dem Menschen, der sie in seinem krankhaften Größenwahn zerstört.
kultur.west: Mit diesen Ansichten würde Leonardo ja gut ins 21. Jahrhundert passen.
REINHARDT: Zukunftsweisend ist er für mich aber noch mehr durch eine andere Einsicht. Denn auch als Kunsttheoretiker entwickelte er ja sehr faszinierende Ideen: So hat er erkannt, wie man den Menschen manipuliert – nämlich durch das Auge. Dass man ihn mit Bildern fängt. Nicht mit eleganten, intelligenten, hochgestochenen Sätzen, sondern mit geschickt komponierten Bildern kann man ihn fangen und beherrschen. Eine Erkenntnis, die erregend und bestürzend zugleich ist.
VOLKER REINHARDT: LEONARDO DA VINCI. DAS AUGE DER WELT, VERLAG C.H. BECK, MÜNCHEN 2018, 383 SEITEN, 28 EURO
»Lionardo«, genannt da Vinci, kam am 1452 als unehelicher Sohn eines Notars und einer Bauerntochter im Dorf Vinci in der Toskana zur Welt. Er wuchs im Florenz der Medici auf, lernte in der Werkstatt des Malers Verocchio, arbeitete als Hofkünstler in Mailand und verbrachte seinen Lebensabend in Diensten des französischen Königs in Amboise, wo er 1519 starb. Die Stationen seiner Vita sind gut erforscht, doch bleibt vieles geheimnisvoll in seinem Werk. Rätsel gibt auch dieser Greis auf. Ist er ein Selbstporträt? Er könnte auch das idealisierte Bild eines antiken Philosophen sein. Volker Reinhardt glaubt, dass es sich um eine Fälschung des 19. Jahrhunderts handelt.