Jasmin Vogel steht allein auf der Bühne der Hamburger Elbphilharmonie. Stünde sie hinterm Rednerpult, wie vorgesehen, sie würde dahinter verschwinden. Stattdessen adressiert die schmale, kleine Frau ihr Publikum mitten im Raum stehend und mit energischen Gesten. Frei redend und duzend wickelt sie es um den Finger. »Wie lernen wir in alten Systemen die Zukunft neu denken?« ist der Titel ihrer Keynote auf einer Konferenz der Elbphilharmonie und Körber-Stiftung. Vor internationalen Gästen erzählt die Vorständin des Kulturforums, von ihrer Stadt – von Witten.
Der Wittener Saalbau eröffnete zu einer Zeit, als Jasmin Vogel noch gar nicht geboren war und die traditionell SPD-regierte Stadt am Rande des Ruhrgebiets an eine große Zukunft glaubte. Bis Mitte der 1970er Jahre ging die Einwohnerzahl stetig nach oben, bis die für eine Großstadt wichtige Marke von 100.000 überschritten war. Aus diesem Selbstbewusstsein heraus leistete man sich 1975 eine Mehrzweckhalle vom Feinsten. Der Zuschauerraum im Saalbau bietet 791 feste Sitzplätze, die 150 Quadratmeter große Bühne hat nicht nur eine Dreh-, sondern auch eine fahrbare Vorbühne. Dazu kommt ein weiterer Festsaal mit Platz für 1000 Menschen.
Heute ist Witten auf knapp 95.000 Einwohner geschrumpft, und die sind mobil: Die direkt angrenzenden Großstädte Dortmund, Bochum und Hagen sind schnell erreicht und bieten an Kultur und Unterhaltung alles, was der Saalbau als klassische Bespielbühne auch bietet – und mehr. Nicht erst seit der Corona-Pandemie wurde der Saalbau zum Problemfall. Das Haus ist nur noch selten ausverkauft, häufig maximal zu einem Viertel gefüllt. Es gibt hier Personalversammlungen, Abibälle, Schuhbörsen, Weihnachtsfeiern, ein Abo-Publikum für Kindertheater und Schauspiel, vor allem Komödien. Aber ein Selbstläufer ist der Saalbau schon lange nicht mehr.
Markus Barisch erinnert sich noch an die Zeit vor zehn Jahren, als die Unternehmensberater von Kienbaum wochenlang neben ihm und seinen Kolleg*innen aus der Saalbau-Verwaltung saßen, Zahlen und Prozesse prüften. Seitdem ist er, der einzige Beamte im Team, sensibilisiert. Heute ist Barisch Leiter des Saalbaus, hat erfolgreich Comedy und Kabarett nach Witten geholt und kümmert sich darum, dass im Programm zuverlässig Kassenknüller auftauchen. Er ist froh, dass der Saalbau die Besuchszahlen von vor Corona langsam wieder erreicht; 2023 zählte man rund 100.000.
Markus Barisch ist ein Eigengewächs der Stadtverwaltung: Nach seiner Ausbildung bearbeitete er im Sozialamt sechs Jahren lang Sozialleistungen nach einem zugewiesenen Buchstabenbereich, bevor er zum Saalbau wechselte. Von den Pflichtaufgaben einer Stadtverwaltung hin zu den freiwilligen Leistungen in einen Bereich, der seine Existenz entweder selbst erwirtschaften muss – oder immer wieder neu rechtfertigen. Das tut man in Witten derzeit auf ungewohnte Weise.
Markus Barischs Weg durch den Saalbau führt seit einigen Wochen unter einer Diskokugel her, denn regelmäßig verwandelt sich sein Arbeitsplatz in einen angesagten Club. Statt eines Telefonhörers oder einer Computermaus hat er auch mal einen Spaten in der Hand, wenn es gilt, auf dem Vorplatz ein Beet anzulegen. Inzwischen sagt er Sätze wie: »Wir sind in der Erprobungsphase. Wir haben die Freiheit, auch mal etwas auszuprobieren.« Eher ungewöhnliche Sätze, wenn man den Klischees eines sonst durchreglementierten Verwaltungsapparats glaubt. Möglich macht sie auch Jasmin Vogel.
Die 42-Jährige ist die Chefin über den Saalbau, aber auch für die städtische Bibliothek, das Märkische Museum und Stadtarchiv, die Musikschule und das Kulturbüro. Wer sich für die Weiterentwicklung von Kultureinrichtungen interessiert, kommt derzeit an ihr kaum vorbei. Auf Bühnen und Podien, Fachtagungen und in Veröffentlichungen ist sie dauerpräsent und erzählt davon, wie der Wittener »wind of change« Köpfe, Strukturen, Orte und Programme durcheinanderwirbelt.
Wer sich mit ihr verabreden will, sollte sich darauf gefasst machen, dass es eher ein Treffen unter 14 statt unter 4 Augen wird: Die Chefin hat einen Teil ihres Teams zum Interview mitgebracht. »Kollaboration« ist nicht nur eines ihrer Lieblings-Buzzwords, wie sie selbstironisch anmerkt. Spätestens, wenn man nicht nur ihr, sondern auch der »Managerin für digitale Transformation« oder dem »Projektmanager Placemaking und künstlerische Entwicklung« die Hand schüttelt, ahnt man, was dahintersteckt. Neue Wege lassen sich nur gemeinsam gehen, das ist die Botschaft.
Für Jasmin Vogel war es vor vier Jahren ein schwieriger Start: Kurz nach Antritt ihrer neuen Stelle kamen die Einschränkungen der Corona-Pandemie. Statt steigender Besuchszahlen also zunächst ein über Jahre anhaltender weiterer Besucherrückgang. Nun sind vier, fünf Jahre eine übliche Zeitspanne, nach der von einer neuen Leitung gemeinhin sicht- und messbare Erfolge erwartet werden: frischere Programme, eine bessere Auslastung, positive Medienresonanz, so etwas. Was wurde in der Ära Vogel bisher erreicht, zum Beispiel für den Saalbau?
Jasmin Vogels Antwort ist typisch für sie. »Der Anspruch, den Saal wieder voll zu machen, ist der falsche.« Für sie ist der gut ausgestattete, aber häufig leere Bühnenraum kein Problem, nicht mal eine »Herausforderung«, sondern »ein riesengroßer Schatz«, den sie legitimieren wolle. »Wichtig ist eine neue Erzählung, ein Versprechen, was der Saal sein könnte: ein neuer Gemeinschaftsort für Witten, der der Stadt bislang fehlt«, ist sie überzeugt. »Hier im Saalbau haben wir alles – vielleicht kein Geld, dafür aber Ressourcen, die wir teilen können!«
Mit Storytelling aus der Krise? Sind das nur Marketing-Floskeln? Solche Vorwürfe muss wohl aushalten, wer Strukturen verändern will. Jasmin Vogels Arbeit begann damit, Gewohnheiten und Glaubenssätze in den vorhandenen Köpfen zu verändern – aber auch, andere Köpfe zu suchen. Zu ihrem Team gehört zum Beispiel Alissa Krusch, »Managerin digitale Transformation«. Da ist auch der »Transformationsmanager« Joscha Denzel oder die freie Künstlerin Beata Nagy, die das neu gegründete »Ensemble X« begleitet, ein diverses und halb semi-, halb professionelles Bürger-Ensemble, das ohne Intendanz auskommt.
Die neuen Transformationsmanager gehören zwar zur Stadtverwaltung, stellen deren Arbeitsprinzipien aber kurzerhand auf den Kopf. »Wir verändern erst den Raum und schauen dann, was passiert«, sagt Joscha Denzel. »Neue Räume geben den Menschen die Möglichkeit, frei zu denken und zu gestalten. Plötzlich sprudeln die Ideen.« Das Ziel lautet, den Saalbau zu einem Community-Ort machen. Was die Community dann aber dort anfängt und wer diese Community eigentlich ist, das bleibt erst einmal offen.
Wie der Tango auf den Vorplatz kam
So gestaltete das Saalbau-Team in der Corona-Pandemie den Vorplatz um, begrünte ihn und engagierte ein Szenografie-Büro. Das möblierte den einstmals grauen Platz mit knallig-orangefarbenen Elementen, die sich farblich an Gerlinde Becks 1975 dort aufgestellter Skulptur orientieren und deren Titel weiterdenken: »Platzgestaltung«! Seitdem gibt es Podeste, Sitzgelegenheiten, kleine Bühnen, Container. Ein Tango-Treff etablierte sich, das Stadtarchiv zeigte Ausstellungen, Kinder und Jugendliche kamen für Workshops vorbei.
Vom Vorplatz hinein in die gute Stube: Im nächsten Schritt sollten die Wittener das Gebäude selbst neu erleben. Dafür sorgen unter anderem Partys, die seit September 2023 monatlich im Eingangsfoyer stattfinden. Für die »Studio 25«-Club-Abende verändert sich das Foyer komplett. Digitalkünstler und DJs übernehmen das Kommando. Sie besetzen mit dem Tanzevent eine Lücke im Wittener Nachtleben – vermisst wurde sowohl das Feiern wie das Fördern der Clubkultur. Die Party zieht Menschen zwischen 20 und 60 an.
Für die Partyreihe kooperiert der Saalbau mit einem lokalen Veranstalter – auch das meint Jasmin Vogel, wenn sie von »Kollaboration« spricht: mitnehmen und fördern, was da ist. »Wir lernen bei solchen Events, bei denen wir als Mitveranstalter agieren, gerade sehr viel dazu«, sagt Saalbau-Leiter Markus Barisch, zum Beispiel, wie wichtig Lagerflächen seien. »Aber auch, wie wichtig es ist, gut zu kommunizieren«, ergänzt seine Chefin. Nachdem die Discokugel der Einfachheit halber zwischen den Clubabenden hängen blieb, waren einige Mitarbeiter*innen doch sehr irritiert.
Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt – ebenso wie Wittens Politiker, die im Saalbau ihre Ratssitzungen abhalten, denn das Rathaus wird seit einigen Jahren saniert. Für Jasmin Vogel ist das ein Glücksfall, der dem Saalbau neue Sichtbarkeit verschafft und am Ende vielleicht mit dazu geführt hat, dass die Politik über alle Fraktionen hinweg einstimmig für die Sanierung des Saalbaus votierte.
Das Oktopus-Prinzip
Die steht nun demnächst an. Rund 12 Millionen Euro hat der Rat der Stadt freigegeben, um das Haus energetisch und gebäudetechnisch fit für die Zukunft zu machen. Das meiste Geld werden dabei Arbeiten verschlingen, die am Ende unsichtbar bleiben: Eine neue Lüftungsanlage und Wärmeversorgung, neue Fenster oder eine Photovoltaik-Anlage sind zwar dringend nötig, machen den Ort aber erstmal nicht attraktiver. Jasmin Vogel verspricht jedoch, der Stadt nach der teuren Sanierung einen Ort für alle zurückzugeben. »Vermutlich wird der Saalbau bis auf kleinere, kosmetische Veränderungen nicht viel anders aussehen. Aber die Nutzung wird eine andere sein«, sagt sie. Wie genau, das weiß sie noch nicht. »Tentakulär« nennt sie dieses Vorgehen: »Du fängst irgendwo an und tastest dich vorwärts. Dabei geht es nicht nur nach vorne, sondern in alle Richtungen.« Wie ein Oktopus greift der Saalbau mit seinen Armen um sich, um Wittener aller Milieus und Generationen zu erwischen, die den Saalbau für ihre Zwecke nutzen könnten.
Der Veränderung Raum geben, noch bevor diese ein Gesicht hat – das galt auch für das Digitallabor, das sich neuerdings im Untergeschoss des Saalbaus befindet. Aus der ehemaligen Kantine wurde ein gemütliches, aber technisch bestens ausgestattetes Studio. Bands nehmen dort Musik und Musikvideos auf, freie Radiostationen produzieren Sendungen oder Podcasts, Künstler tasten sich an VR-Projekte heran. Geplant war das nicht – erst einmal nutzten die Wittener Fördertöpfe, um der digitalen Transformation einen Ort zu geben. Und es hat funktioniert: Menschen, die dort produzieren wollten, waren schnell gefunden. Inzwischen wird das Digitallabor auch vermietet – dafür musste eigens die Entgeltordnung umgeschrieben werden. »Andersherum hätte es nicht funktioniert«, ist Digital-Managerin Alissa Krusch überzeugt, »wir mussten erst den Salto nach vorn machen«.
Fördermittel-Akquise ist eine der Stärken von Jasmin Vogel. Im (Corona-)Jahr 2021 gelang es ihr, die Summe der Fördermittel auf 1 Millionen Euro zu vervierfachen. Schon für ihren vorherigen Arbeitgeber, das Dortmunder U, hatte sie ein millionenschweres EU-Projekt an Land gezogen. Eine andere Stärke: Kommunikation. Dank ihrer Netzwerke wird die Großküche im Saalbau, die 4000 Essen produzieren kann und damit heillos überdimensioniert ist, möglicherweise demnächst das Catering für Wittener Studierende, Kita- und Schulkinder herstellen. Der Saalbau als Verpflegungsstation für Kopf, Herz und Magen – besser kann man einen Ort kaum legitimieren.
»Jasmin hat den Laden völlig umgekrempelt. Vorher war der Saalbau eine Spielstätte unter vielen im Ruhrgebiet. Heut kennt man uns – auch im Landtag und in Berlin«, sagt Markus Barisch stolz. »Ich merke aber auch: Aller Anfang ist schwer. Mit vielem verdienen wir nicht wirklich Geld, was aber schon mein Job ist.« Für Jasmin Vogel steht indessen der Weg im Vordergrund, nicht das Ziel. Druck von Politik oder Kämmerei bekommt sie derzeit nicht – nur so kann sie sich ihre Haltung leisten, Strukturen statt Bilanzen zu verändern. »Eine Vorstellung habe ich nur davon, wie ich zusammenarbeiten möchte. Für das Ergebnis bin ich offen«, erklärt sie dem Publikum in der Elbphilharmonie. »In Witten entsprechen vielleicht 20 bis 30 Prozent der Ergebnisse meinen persönlichen Vorstellungen – das muss aber aushalten, wer Partizipation ernst nimmt. Sinnstiftung ist extrem wichtig. Jeder meiner 120 Mitarbeiter sollte gerne zur Arbeit kommen.« Die Antwort ist tosender Applaus.