INTERVIEW: ULRICH DEUTER
K.WEST: Was ist in Ihrer Sicht das Projekt der europäischen Aufklärung am ehesten: Erfolgreich abgeschlossen? Gescheitert? Wieder mal gefährdet? Oder eine historische Daueraufgabe, deren derzeitige Obliegenheiten welche wären?
SCHMIDT-SALOMON: Die Aufklärung ist weder erfolgreich abgeschlossen, noch gescheitert. Sie ist ein unvollendetes Menschheitsprojekt, das darauf abzielt, unser Denken und Handeln rationaler zu machen. Kernelement dieses Denkens ist der methodische Zweifel, das kritische Überprüfen alles Vorgegebenen. Damit kollidieren natürlich die Interessen derer, die »heilige, unantastbare Werte« verkünden und Unfehlbarkeitsansprüche für sich reklamieren. Schon allein deshalb war das Projekt der Aufklärung stets gefährdet – und das gilt auch für die Gegenwart.
K.WEST: In den letzten Jahren ist eine Renaissance des Religiösen zu verspüren. Dass der Islam im westlichen Haus Platz genommen hat, hat diese Tendenz paradoxerweise noch verstärkt – obwohl die kulturellen Praktiken, die er mit brachte, uns an die Unfreiheit hätten erinnern müssen, die religiöse Systeme hervorbringen (können). Wie erklären Sie sich diese Tendenz?
SCHMIDT-SALOMON: Die »Renaissance des Religiösen« ist in Europa kaum mehr als eine mediale Inszenierung. Fakt ist: Niemals gingen weniger Deutsche in die Kirche als heute, selbst bei den Katholiken ist die Zahl der Gottesdienstbesucher auf magere 14 Prozent geschrumpft! Nur eine verschwindende Minderheit der nominell Gläubigen weist der Religion noch eine besondere Bedeutung in ihrem Leben zu. Darüber hinaus gibt es längst schon mehr konfessionsfreie Menschen als Katholiken oder Protestanten in Deutschland – und ihre Zahl wird von Jahr zu Jahr mehr. Europa ist, wie ich einmal schrieb, eine »Insel der Unseligen« in einem »Meer von Glaubensstreitern« – und bislang gibt es keinerlei seriöse Daten, die darauf hindeuten, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird.
Mit dem Christentum konnten sich viele säkularisierte Bundesbürger in den letzten Jahrzehnten arrangieren, da es sich in Westeuropa nicht mehr so tödlich ernst nimmt. Da der Islam aber nicht gezwungen war, die Dompteurschule der Aufklärung zu durchlaufen, hat er sich keine zivileren Umgangsformen angewöhnen müssen. Das verschreckt heute viele diesseitig denkende Menschen und löst eine generelle antireligiöse Reaktion aus, die sich nicht zuletzt in hohen Kirchenaustrittszahlen widerspiegelt.
K.WEST: Sie halten – mit dem britischen Biologen Richard Dawkins – religiösen Glauben für »Gotteswahn« resp. »atemberaubenden Blödsinn«. Ist Ihr Weltbild – hie Vernunft und Humanismus, da Gottesglaube und Menschenfeindlichkeit – nicht etwas zu manichäisch? Unbestritten sind wesentlich Elemente der europäischen Aufklärung ohne etwa das Menschenbild des Christentums gar nicht denkbar.
SCHMIDT-SALOMON: Ich habe immer wieder betont, dass die Religionen »kulturelle Schatzkammern der Menschheit« sind, in denen wir viele menschenfreundliche und kluge Elemente finden. Leider aber sind diese progressiven Anteile des Glaubens unheilbar verwoben mit tiefster Menschenverachtung und absurdesten Irrtümern. Der eigentliche Konflikt besteht doch heute längst nicht mehr zwischen denen, die an Gott glauben, und jenen, die – wie ich – die Vorstellung eines personalen Gottes als »unelegante Hypothese« ablehnen. Die Konfliktlinien verlaufen vielmehr zwischen Menschen und Gruppierungen, die meinen, die absolute Wahrheit für sich gepachtet haben, und jenen, die wissen, dass ihre Vorstellungen notwendigerweise beschränkt und fehleranfällig sind.
K.WEST: Der erste Abend innerhalb der Reihe »Mehr Licht!«, an dem Sie anwesend sein werden, nennt sich »Abschiede von Himmeln und Höllen«. Das korrespondiert inhaltlich mit Ihrem Buch »Jenseits von Gut und Böse«, mit dem Sie bekannt geworden sind. Abgesehen von dem aufrichtigen Wunsch, Ihr nächstes Buch bitte nicht »Also sprach Zarathustra« zu nennen, würde ich gern wissen, was denn gewonnen wäre, gäben wir die Moral auf. Anschaulich gefragt: Was soll mich daran hindern, einer einsamen alten Frau die Tasche wegzunehmen – wenn nicht Moral?
SCHMIDT-SALOMON: Schon Arthur Schopenhauer hat das Mitleid ins Zentrum der Ethik gerückt – und zwar zu Recht: Denn wenn wir nicht in der Lage wären, am Leid der anderen mitzuleiden und uns an ihrer Freude zu erfreuen, würden wir uns keine Gedanken über Ethik machen. Im Normalfall hindern uns schon die Spiegelneuronen in unseren Köpfen daran, der alten Dame die Tasche zu rauben. Aber auf die ethische Kraft der Empathie alleine können wir uns nicht verlassen. Deshalb haben wir Regeln aufgestellt, die ein friedliches Zusammenleben der Menschen ermöglichen sollen.
Der entscheidende Punkt ist nun, dass die Regeln, die einen modernen Rechtsstaat kon stituieren, ethischer Natur sind, nicht moralischer! In der philosophischen Debatte hat sich eingebürgert, dass man unter »Moral« das »gelebte sittliche Empfinden« versteht und unter »Ethik« die »kritische Reflexion« dieses »sittlichen Empfindens«. Meine eigene Unterscheidung zwischen Ethik und Moral setzt genau hier an. Ich sage: Wer moralisch denkt, der geht von den Konventionen des »sittlichen Empfindens« aus. Wer ethisch denkt, hat dieses konventionelle Denken überwunden, er verurteilt Verhaltensweisen nicht, weil sie an sich »unsittlich« wären, sondern weil sie die Interessen anderer in unangemessener Weise verletzen.
Was den Titel meines nächsten Buchs betrifft, kann ich Sie beruhigen: Es heißt »Vom Sinn und Unsinn des Lebens« und beruht auf Gesprächen, die ich mit meiner Tochter über die großen und kleinen Fragen des Lebens geführt habe.
K.WEST: Um den Menschen vom Druck der Moral zu befreien, entbinden Sie ihn von der Willensfreiheit. Sie sagen, diese könne gar nicht existieren, weil sie den Naturgesetzen widerspreche: keine Wirkung ohne Ursache. Nun liegt aber das Kausalitätsprinzip nicht in der Natur, sondern wird ihr vom Menschen zugeschrieben. Wieso also sollte das Kausalitätsprinzip für das Organ gelten – gemeint ist nicht das Gehirn, sondern der menschliche Geist –, das solche »Naturgesetze« doch erst erfindet?
SCHMIDT-SALOMON: Lange bevor sich Hirnforscher mit dem Thema beschäftigten, war den meisten Gelehrten klar, dass sich »Willensfreiheit« gar nicht denken lässt. Viele unterstellten den »freien Willen« nur noch aus moralischen Gründen, weil sie dachten, dass ohne eine solche Unterstellung alle sozialen Werte in sich zusammenfallen würden. Ich habe in meinem Buch gezeigt, dass dies nicht zutrifft. Wir wären nach dem Abschied von der Willensfreiheit sogar eher in der Lage, ethisch angemessene Entscheidungen zu treffen. Denn gerade die Fiktion des freien Willens führt zu jener dummen und politisch gefährlichen Selbstgerechtigkeit, mit der die Glücklichen über die Unglücklichen, die Gebildeten über die Ungebildeten, die Eliten über die Marginalisierten, die »Guten« über die »Bösen« richten.
K.WEST: Der Handelnde in Ihrem Weltbild ist nicht mehr der Mensch, sondern es sind historisch bedingte kulturelle Kodifizierungen, die das Handeln der Menschen so weit determinieren, dass sie sogar von persönlicher Schuld frei sind. Während für Kant Aufklärung den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit bedeutete, scheint Aufklärung für Sie das Eingehen in die Unmündigkeit des Subjekts zu sein.
SCHMIDT-SALOMON: Das ist ein schiefer Vergleich: Mündigkeit verlangt doch, dass man die Realitäten anerkennt und sich nicht aus der Wirklichkeit fortlügt. Und wer glaubt, »Freiheit« oder »Autonomie« bestehe darin, über einen ursachenfrei agierenden Geist zu verfügen, der jagt nun einmal einer Chimäre hinterher. Bedenken Sie: Ihre Autonomie als Individuum wird doch nicht dadurch eingegrenzt, dass es Ursachen dafür gibt, dass Sie genau das wollen, was Sie wollen, sondern dadurch, dass es Zwänge gibt, die verhindern, dass Sie tun können, was Sie wollen. Es geht bei der Frage der Autonomie also um »Handlungsfreiheit«, das heißt: die Freiheit von Zwängen, die uns daran hindern, unseren Willen in die Tat umzusetzen – nicht um »Willensfreiheit«, also die Freiheit von Ursachen, die unseren Willen bestimmen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, dass der Abschied von der Fiktion der Willensfreiheit keineswegs auf Fatalismus hinausläuft: Weder »die Gene« noch »die Meme«, weder die »gesellschaftlichen Verhältnisse« noch das »unerfindliche Schicksal« zurren fest, wie unser Leben verlaufen wird. Als eigensinnige Lebewesen, die Wohl und Wehe unterscheiden, haben wir in Bezug auf das, was mit uns geschieht, sehr wohl ein Wörtchen mitzureden!
K.WEST: Die von Ihnen geleistete Dekonstruktion des Ichs führt als Belohnung nicht nur zu einer entspannteren Welt, wie Sie versprechen, sondern sogar zu einem Glücks- und Verschmelzungserlebnis: einer unmittelbaren Einheit von Welt, Wahrnehmung und Wahrnehmendem. Sie nennen dies, als nichtgläubiger Mensch, »rationale Mystik«. Eine Contradictio in adiecto?
SCHMIDT-SALOMON: Ich gebe zu: Der Begriff »rationale Mystik« klingt zunächst wie ein Widerspruch in sich. Schließlich steht der Begriff des Mystischen ja gerade für das Geheimnisvolle, das rational nicht Fassbare. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine solche Erfahrung nicht im Nachhinein rational bewertet werden könnte. Ja, mehr noch: Rationale Überlegungen können sogar mystische Erfahrungen auslösen!
Das ist nicht verwunderlich, wenn man weiß, welche Parallelen es zwischen den Erkenntnissen der modernen, naturalistischen Philosophie und den Einheitserfahrungen der Mystiker gibt. Denn wie die Mystik, so überwindet auch die moderne Philosophie den klassischen Dualismus von Leib und Seele, Geist und Materie, Subjekt und Objekt. Wer etwa die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie und Hirnforschung in angemessener Weise philosophisch verarbeitet, der weiß ebenso gut wie ein Zen-Meister, dass das »Ich« in Wirklichkeit bloß eine virtuelle Figur in einem virtuellen Theaterstück ist, das von einem blumenkohlförmigen Organ in unseren Köpfen inszeniert wird.
Wer dies begriffen hat, findet leicht zu einer Denkhaltung, die der christliche Mystiker Meister Eckart mit dem schönen Begriff der »Gelassenheit« umschrieben hat. Man kann es vielleicht so formulieren: Wer von seinem Selbst lassen kann, der entwickelt ein gelasseneres Selbst. Um dahin zu kommen, muss man keine Meditation im Zen-Kloster machen. Das wissenschaftliche Weltbild trägt in sich eine ganz eigene, wunderbare Poesie, die bislang aber nur sehr wenige für sich entdecken konnten.
»Mehr Licht. Die europäische Aufklärung weiter gedacht.« Veranstaltungsreihe in Kooperation von Ruhr.2010 und Literaturbüro Ruhr. Bis 15. Nov. 2010. Info: 01805/45 20 10. www.mehrlicht.info
M. Schmidt-Salomons Buch »Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind« ist im Pendo-Verlag erschienen und kostet 19,95 Euro.