Irgendetwas hat sich geändert damals, aber man kann nicht mehr sagen, wann genau es passiert ist und wie. Einer dieser Momente, in denen die Veränderung sichtbar, nein: eher fühlbar wurde, war am Abend des 9. November 2002 in der Düsseldorfer Messehalle. Herbert Grönemeyer saß unten auf der Bühne am Flügel und spielte das Lied »Der Weg«. Als er fertig war, erhob er sich, und stellvertretend für die ganze Fernsehnation erhob sich im Gegenzug auch das Publikum von »Wetten, dass..?«. Es klatschte und wollte gar nicht mehr aufhören damit. Herbert Grönemeyer stand da neben seinem Flügel, ganz still. Und bevor Thomas Gottschalk irgendwas tun konnte, um den Showmotor wieder anzustellen und diesen Moment völliger Entrückung, völligen Stillstands im Fernsehen wieder wegzumachen, das solche Augenblicke symbolischer Überhöhung zwar immer herbeisehnt, aber andererseits durch sie gewaltig in seinem dramaturgisch automatisierten Handlungsablauf gestört wird – bevor Thomas Gottschalk also diesen Moment kaputtreden konnte, ging Herbert Grönemeyer ab. Wortlos.
In dem Lied »Der Weg« spricht der Ich- Erzähler über eine verlorene Liebe, er trauert ihr hinterher, und doch fasst er am Schluss, in den letzten Strophen, neuen Mut, und sei es der der Verzweiflung, ein störrischer, stoischer jedenfalls: »Ich geh nicht weg / Hab‘ meine Frist verlängert / Neue Zeitreise / Offene Welt / Hab dich sicher / In meiner Seele / Ich trage dich bei mir / Bis der Vorhang fällt.« Das Publikum in der Düsseldorfer Messehalle und das draußen an den Bildschirmen war sich sicher, von wem das Lied handelt, von Herbert Grönemeyer selbst, der sich da von seiner 1998 verstorbenen Frau Anna Henkel verabschiedet, und ja eben doch nicht, denn: »Ich trage dich bei mir / Bis der Vorhang fällt.« Genauso sicher war sich das Publikum einige Monate vorher, als im August 2002 die Vorabsingle des ersten Albums von Herbert Grönemeyer seit viereinhalb Jahren Pause erschienen ist, sie heißt so wie das Album selbst, »Mensch«. Der Refrain lautet: »Und der Mensch heißt Mensch / Weil er vergisst / Weil er verdrängt / Und weil er schwärmt und stillt / Weil er wärmt, wenn er erzählt / Und weil er lacht / Weil er lebt / Du fehlst.« Auch hier musste Grönemeyer zu seiner verstorbenen Frau singen, mehr aber noch schien er einem ganzen Land aus dem Herzen zu singen: Mensch sein, das wollen ja alle, und nicht vergessen werden, wenn man mal gegangen ist. Nach diesem Lied glaubten die Deutschen zu wissen, wie das geht, und wie es sich anfühlt für die, die bleiben. Bleiben müssen. Bleiben wollen. Die Single »Mensch« war, man kann es kaum glauben, Herbert Grönemeyers erste Nummer Eins in den deutschen Singlecharts, nach fast 25 Jahren Musikerkarriere, nach »Männer«, »Bochum«, »Flugzeuge im Bauch«, »Kinder an die Macht«. Das Album »Mensch« war das schnellstverkaufte in der Geschichte der deutschen Tonträgerindustrie, schon die Vorbestellungen sicherten Grönemeyer dreifach Platin, und mit rund vier Millionen Exemplaren ist es auch dreieinhalb Jahre nach seinem Erscheinen immer noch das bestverkaufte in Deutschland seither. Nur zum Vergleich: Robbie Williams, der größtanzunehmende europäische Superstar unserer Zeit, war im vergangenen Jahr mit knapp 700.000 abgesetzten Albeneinheiten von »Intensive Care« der erfolgreichste Künstler in Deutschland.
Was aber ist dann bitteschön Herbert Grönemeyer? Eben gerade kein Superstar. Sondern der Deutschen liebster Volkssänger. Der einzige und vielleicht sogar der letzte, den es auf absehbare Zeit hin geben wird. Jeder zwanzigste Deutsche hat sein Album »Mensch« gekauft, das ist eine in der Musik heute eigentlich nicht mehr vorstellbare Zahl. Und doch drücken all die Zahlen und Rekorde natürlich nicht aus, was mit und durch »Mensch« passiert ist. »Volkssänger«, den Begriff möge er, hat Herbert Grönemeyer unmittelbar vor der Veröffentlichung von »Mensch« in einem Interview mit Moritz von Uslar gesagt. »Volkssänger« sei jedenfalls viel besser als »Deutschrocker«, und man hört Moritz von Uslar dann sagen, dass man sich ja immer schon gewünscht hätte, das Wort »Volk« mal aus Grönemeyers Mund zu hören. Und tatsächlich darf man das nicht missverstehen: Grönemeyer ist nicht volksnah. War er nie. So wenig wie er sich selbst je wirklich als Mann des Volkes inszeniert hätte: Er hat stets Distanz gehalten, zu seinem Publikum, auch zu den Medien. Das war schon so, als er 1984 mit seinem fünften Album »4630 Bochum« erst wirklich berühmt wurde, auf dem die Lieder »Männer«, »Flugzeuge im Bauch« und eben das auf seine frühere Heimat-, aber übrigens nicht Geburtsstadt waren: Herbert Arthur Wiglev Clamor Grönemeyer wurde nicht in Bochum, sondern in Göttingen geboren, als Sohn eines calvinistischen Ingenieurs. Ein Bürgersohn, aufgewachsen im Pott.
»Bochum, ich komm aus dir / Bochum, ich häng an dir / Oho, Glück auf – Bochum…«: Das war das Bekenntnis eines fast ein wenig verzweifelt und unerhört Liebenden, der dann aber doch nicht auf seine alte rostige Liebe warten wollte. Der fort wollte von dem Ort, wo er als Junge Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in Häuserruinen gespielt hatte, die immer noch vom Krieg übrig geblieben waren. Dem die Welt dort zu klein geworden war, vielleicht auch nicht schön genug, der weiter zog, nach Köln zum Beispiel und viel später nach London. Und der seine erste Liebe Bochum vielleicht wegen anderer Dinge geliebt hatte, als das die Jungs tun, die samstags beim VfL auf der Tribüne hocken. Dafür zum Beispiel, dass Peter Zadek ihn als blutjungen Kerl ans Schauspielhaus geholt hat, in der Funktion als musikalischen Leiter, während Grönemeyer parallel an der Ruhr- Universität studierte, Musikwissenschaften und Jura. Dass ihm so die Welt der Bühne geöffnet wurde, schnell auch als Schauspie ler, der er heute seit langem nicht mehr ist: Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, an der Freien Volksbühne Berlin, am Württembergischen Staatstheater Stuttgart, am Kölner Schauspielhaus hat er gespielt, lauter gute Adressen. Und keine Statistenrollen, sondern den Prinz Florize im »Wintermärchen«, den Lorenzo im »Kaufmann von Venedig« oder den Grafen Orlowski in der »Fledermaus«, und das alles ohne Schauspielausbildung. Das war, noch bevor 1981 »Das Boot« kam und die Rolle als Leutnant Werner, die noch heute so perfekt auf Grönemeyer zu passen scheint: Der Leutnant Werner war auch keiner von den harten, einfachen Jungs da unten in der U96, dafür war er zu klug und zu sensibel, aber am Ende haben sie den Außenseiter doch in ihre Gemeinschaft aufgenommen, ihn vielleicht sogar geliebt. Ganz einer von ihnen wurde er nicht. Aber er gehörte dazu.
Grönemeyers spätere persönliche Tragik jedoch, der Verlust von Frau und einem seiner beiden Brüder binnen weniger Tage 1998, und wie Grönemeyer damit auf »Mensch« künstlerisch umzugehen verstand – das machte letztlich erst die Verwandlung eines Gemochten, eines Dazugehörigen in einen zutiefst Verehrten möglich. Grönemeyer ist heute so erhaben über alle Zweifel wie kein anderer Sänger in Deutschland. Der Grund ist ein äußerstes Wagnis: Scheinbar ließ er alle Skrupel fallen, gab alle Distanz auf und machte auf künstlerische Weise öffentlich, was er als öffentliche Person niemals zugelassen hätte, dass man es über ihn verbreite – die innersten Gefühle eines Hinterbliebenen. Das Wagnis war umso größer, als dass es davor ja nicht so gewesen ist, dass Grönemeyer unbedingt von allen Deutschen geliebt wurde, nicht einmal richtig respektiert. Er hätte nicht nur als Künstler, sondern auch als öffentliche Person scheitern können mit »Mensch«. Denn es gab ja nicht nur Wiglaf Drostes berühmte Schmähung »Herbert Grönemeyer kann nicht tanzen« von 1988: »Herbert lacht. Schwitzt. Winkt. Freut sich. Gibt, was er hat. Hat den Jaul, nicht den Soul. Klingt leicht abgestochen. Aber voll da.«
Da war das Unperfekte, Steife, Unlockere, Unlustige, Belehrende, Gefühlige, politisch Korrekte, ja Missionarische, das man ihm nachsagte. Verspottet wurde Grönemeyer trotz allen Erfolges über die Jahre so, wie es nach ihm schlimmer vielleicht nur noch Hartmut Engler von Pur ergangen ist. Grönemeyer hat sich im Gegensatz zu Engler jedoch nie anmerken lassen, was der Spott bei ihm auslöste. Hat viel eher geräuschlos dafür Sorge getragen, dass die Privatperson Grönemeyer nie Ziel der Berichterstattung werden konnte. Nicht nur, dass es mit ihm nie Homestorys gab. Grönemeyer versteht bis heute keinen Spaß, wenn es um die öffentliche Darstellung seiner Person geht. So ließ er zum Beispiel die Auslieferung einer nichtautorisierten Biografie, die der Musikjournalist Ulrich Hoffmann beim Verlag Hoffmann und Campe 2003 veröffentlichte, mit diversen einstweiligen Verfügungen stoppen. Im selben Jahr unterschrieben einige Zeitungsverlage, und zwar nicht nur solche vom Boulevard, eine Unterlassungserklärung, wonach die damalige neue Lebensgefährtin Grönemeyers in Zukunft nicht namentlich genannt werden dürfe, nachdem einige Zeitungen eine Agenturmeldung über sie abgedruckt hatten.
Und sogar in seinen Liedtexten hält Grönemeyer in Wahrheit bis heute Distanz zu sich selbst. Auf die Frage, wie viel Grönemeyer denn in »Mensch« stecke, hat er von Uslar gesagt: »Vielleicht sechs Prozent.« Und dass, soweit Lieder von einem selbst handelten, man sich in den Texten doch immer selbst stilisiere, sich selbst ein bisschen besser mache, als man in Wahrheit sei. Grönemeyer will, soll das wohl heißen, aufrichtig sein. Aber nicht authentisch in dem Sinne, wie es die Rock- musik im Allgemeinen versteht: Grönemeyer legt in seinen Liedern nicht Zeugnis von sich ab. Er schafft Kunst. Solche, die mit eigenem Erleben und eigenen Meinungen gefüllt sein mag bis oben hin, und deren Erschaffer sich der Konventionalität der von ihm benutzten ästhetischen Mittel nicht schämt, sich sogar zu ihnen bekennt. Aber: Grönemeyer besteht auf dem Unterschied zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Kunst und Wirklichkeit. Er macht sich nicht gemein. Obwohl kaum jemand so sehr den Anschein der absoluten Intimität zwischen Künstler und Publikum zu erwecken imstande war wie Grönemeyer das mit »Mensch« gelungen ist. Das ist paradox. Und zugleich wohl das, was ihn zum Volkssänger gemacht hat, der die Seelenlage einer ganzen Nation wiederzugeben, ihre Seele selbst zu berühren, zu rühren fähig scheint: Ganz einer von ihnen wurde er nicht. Aber er gehört dazu, und aus seiner gar nicht so sicheren Distanz erkennt er womöglich leichter als alle anderen, was dieses Volk gerade so beschäftigt. Einen Besseren, Würdigeren, Interessanteren, Passenderen für den Job als sein liebster Sänger hätte sich dieses Volk gar nicht aussuchen können.