Der Name reicht, weshalb da noch, wie bei den Romantiteln eine inhaltliche Ergänzung vornehmen: wie »Maigret und die Affäre Saint-Fiacre«, »Maigret und sein Jugendfreund« oder wie hier »Maigret und das tote Mädchen«, an dessen Vorlage von 1954 die Verfilmung sich lose anlehnt. Maigret steht für sich. Georges Simenons Pariser Kommissar ist – Sherlock Holmes hin, Edgar Allan Poe her – der ‚Chef’. Der Maître. Jean Gabin hat ihn (neben den späteren Bruno Cremer, Rupert Davies, Jean Richard, Rowan Atkinson und anderen) vor einem Menschenalter gespielt. So kann es gar nicht anders sein, als dass der ebenso sehr in der französischen Nation wurzelnde, ihren Nationalcharakter verkörpernde Gérard Depardieu ihm einmal würde nachfolgen müssen.
Patrice Leconte hat »Maigret« gedreht: ein Regisseur, der ein Sensorium hat für den Duft der Frauen, ihre Körper und Kleider, ihr Flair, für Interieurs und die Sprache der Gegenstände. Das kommt diesem ‚Fall’, Maigrets 45., zugute. Es erscheint eine junge Frau, uneingeladen, auf einer mondänen Verlobungsparty, das Gastgeber-Pärchen zerrt sie wütend hinaus. Kurz darauf wird sie ermordet auf der Straße gefunden, durchbohrt von mehreren Messerstichen.
Keinerlei Hinweise oder Spuren, nichts. Nicht einmal ihr Name ist bekannt. Nur der Inhalt ihrer Handtasche, darunter ein Fläschchen Laudanum, und ihr luxuriöses Abendkleid. Eine verlorene Seele. Peu à peu setzt sich ein Phantombild zusammen: das einer gewissen Louise Louvière (Clara Antoons), genannt Lulu oder auch Ida. Maigret beobachtet eine ähnlich junge Frau um die 20, folgt ihr, spricht sie an, lädt sie zum Essen ein, kümmert sich um sie, um durch sie das Innenleben der Toten womöglich besser zu verstehen. Diese Betty (Jade Labeste) könnte das Double von Louise sein – oder es werden.
Von den tristen Verhältnissen der Louise und ihrem schäbigen Pensionszimmer führt es Maigret in die vornehmen Kreise (der Familie Clermont-Valois), die Maigret nie behagen aufgrund der unsichtbaren Mauern des Formalen, der abweisenden Diskretion und Konvention, die Abgründe verhüllen sollen.
Von Seelenstärke und störrischem Instinkt
Gérard Depardieu, längst in den Siebzigern, kommt der Figur des Jules Maigret, dem Mann, der gern Medizin studiert hätte, aber frühzeitig Geld verdienen musste und deshalb zur Polizei ging, sehr nahe: wuchtig, kurzatmig, bedächtig, träge fast, aber von Seelenstärke, störrischem Instinkt und bodenständiger Moral. Ein müdes Monument, manchmal grimmiges Mammut. Er sitzt auf einer Parkbank, sinnt, spricht mit Leuten, hört zu, sucht Orte auf, macht sich ein Bild, zwischendurch geht er ins Bistro und trinkt etwas (von Fall zu Fall verschieden – diesmal ist es Weißwein). Oft ist er mit sich allein, selten mit seinen Inspektoren, kaum in seinem Büro, dessen Gebäude bei Leconte in seiner Düsternis einer Gruft gleicht – wie nicht anders die herrschaftliche Wohnung der verdächtigen Clermont-Valois: Mutter (Aurore Clément), Sohn Laurent und künftige Schwiegertochter Jeanine. Ihr Haus wird für einen entscheidenden Moment sogar zu einem – um die Schuldigen zu stellen: inszenierten – Geisterhaus.
Maigret gebiert die Lösung gewissermaßen aus sich heraus. Bei jeder seiner Untersuchungen inhaliert er das Milieu, in dem das Verbrechen stattfand und wo Opfer – und Täter – beheimatet sind. Das ist seine Methode. Andere, wie manch ein Untersuchungsrichter, würden sie banal nennen, unnütz oder unangemessen. Es ist, als trüge dieser Maigret die Last der Welt auf seinen massigen Schultern, als beschwerten ihn die Schicksale all der Toten, die er während seiner Jahre am Quai des Orfèvres gesehen hat und an deren Begräbnissen er teilnahm. Mehr als Trauer, ist es ein tief sitzender Gram, der diesen Maigret bestimmt.
Leconte erzählt – mit kleinen, unscheinbar eingestreuten Hinweisen und Vertrautheiten, die etwa den befreundeten Doktor Pardon und natürlich Madame Maigret betreffen und genaue Kenntnis der Simenon-Romane verraten – ganz ruhig und akkurat, ohne jede Aufregung und Anstrengung und ohne geringsten thrill. Die Kamera gleitet durch die Geschichte, Maigret nicht aus den Augen lassend. Seinem beherrschten Charakter ist sogar ein wenig Ironie mitgegeben, als er einmal, im Zimmer des Richters, sein Requisit, die Pfeife als belgischen Scherz deklariert, als gelte es René Magrittes Idee des Scheinbaren zu ehren. Ein Philosoph mit Polizeimarke. So wenig ging es in einer Maigret-Verfilmung noch nie um die Aufklärung des Mordfalls. Vielmehr um Aufklärung im Dienst des Menschlichen. Am Ende sitzt Maigret im Kino, Auge in Auge mit seinen Gespenstern. Sie werden ihn auch bei Tageslicht weiterhin begleiten. *****
»Maigret«, Regie: Patrice Leconte, F 2022, 88 Minuten, Start: 30. März